10 Was geschah mit den ersten Siedlern Amerikas?

Roanoke Island, 1590

Langsam kommt die Insel in Sicht. Direkt vor der Küste Nordamerikas ist die Siedlung auf Roanoke Island die erste englische Kolonie auf dem neuen Kontinent. Drei Jahre zuvor hat Gouverneur John White hier rund 150 Siedler zurückgelassen – darunter seine hochschwangere Tochter Eleanor, die im Sommer 1587 das erste englische Kind auf amerikanischen Boden zu Welt brachte. John White hatte nie vorgehabt, drei Jahre lang wegzubleiben – doch der Krieg gegen Spanien in der Heimat hatte ihm keine Wahl gelassen. Jetzt kann er es kaum erwarten, seine Tochter und seine Enkelin zu sehen. Doch als er im Dorf ankommt, ist von ihnen keine Spur zu sehen – von keinem der 150 zurückgelassenen Siedler. Die Häuser sind leer und sehen aus, als seien sie schon seit Langem verlassen. Das Gras ist hüfthoch gewachsen – hier ist schon lange keine Menschenseele gewesen. Ein unheimliches Gefühl überkommt John White, denn es ist nicht das erste Mal, dass er Roanoke so verlassen vorfindet. Als er vor drei Jahren mit den neuen Siedlern auf der Insel ankam, waren die Einwohner der ursprünglich bereits 1585 gegründete Kolonie ebenfalls verschwunden. Damals ging White von einem Überfall der amerikanischen Ureinwohner aus. Doch dieses Mal gibt es keine Hinweise auf einen Kampf. Nur zwei Wörter sind auf zwei Baumstämme eingeritzt: „CRO“und „CROATOAN“. Sind die Siedler auf die rund 70 Kilometer entfernte Insel Croatoan geflohen? White kann dieses Rätsel nicht lösen, ein Hurrikan zwingt die Expedition zurück nach Hause. Doch mehr als 100 Jahre später erzählen Entdecker von Begegnungen mit Indianern, die blaue Augen hatten. Sind die Siedler in den Indianerstämmen aufgegangen – vielleicht sogar gewaltsam verschleppt worden? Dafür spricht auch eine Entdeckung aus dem Jahr 2013: 100 Kilometer von Roanoke Island entfernt stießen Archäologen auf dem Festland auf Steinbauten, die keinem Indianerstamm zuzuordnen sind (rechts).