Welt der Wunder

THEO KINDYNIS,

Kriminolog­e

- H. WELLMANN

Der Experte der Goldsmiths University of London befasst sich mit dem gefährlich­en Trend des Roofings, geht den Motivation­en der Roofer nach und erklärt die Rolle der sozialen Medien.

Das Preisgeld ist verlockend. 15000 Dollar verspricht ein anonymer Sponsor dem Gewinner des Video-Wettbewerb­s. Wu Yongning zögert keine Sekunde und meldet sich an. Der 26-Jährige gilt als bester Roofer des Landes. Regelmäßig erklimmt der Chinese die Dächer von Wolkenkrat­zern und macht dort waghalsige Aufnahmen von sich. Eine Million Follower hat Yongning inzwischen. Und jeder Klick, jedes Like ist bares Geld. Wenige Tage später steht der Internetst­ar auf dem Dach des 262 Meter hohen Huayuan Internatio­nal Centre. Hier soll sein neuestes Meisterwer­k entstehen. Der Roofer checkt die Lichtverhä­ltnisse, stellt seine Kamera auf und blickt in die Tiefe. Aber einfach nur am Abgrund posieren wird nicht reichen, nicht für 15000 Dollar. Also lässt er sich langsam an der Außenwand des Hochhauses hinab. 62 Stockwerke über dem Boden hängt er nur mit der Kraft seiner Arme an der Dachkante – und macht Klimmzüge. Einen, zwei, drei. Es ist sein letztes Video, das viral geht ...

„Für viele Roofer geht es darum, sich bei Instagram und Youtube als Marke aufzubauen. Und je spektakulä­rer und exklusiver das Bild, desto wertvoller wird diese Marke.“ THEO KINDYNIS, KRIMINOLOG­E AN DER GOLDSMITHS UNIVERSITY OF LONDON

Wu Yongning stürzt 260 Meter in den Tod. 15 Millionen Menschen sehen

sich auf der chinesisch­en Internetpl­attform Weibo die letzten Sekunden seines Lebens an. Sein InstagramA­ccount ist bis heute online, nur kommen keine neuen Bilder mehr dazu. Weltweit gibt es mittlerwei­le Tausende Roofer, die illegal auf Wolkenkrat­zer, Kräne und Brücken steigen. Doch während vor 15 Jahren vor allem die Suche nach einem Adrenalink­ick die sogenannte­n „Urban Explorers“auf hohe Gebäude klettern ließ, hat sich durch die digitalen Netzwerke wie Instagram, YouTube, Tiktok oder Reddit in den vergangene­n Jahren noch ein weiteres Motiv etabliert: Geld. So wird vielen Roofern in der Szene klar: Wer seine schwindele­rregenden Bilder online stellt, kann in wenigen Tagen Tausende Fans gewinnen. Und je mehr Follower, desto größer ist die Chance, Geld mit seinen Aufnahmen zu verdienen. Tatsächlic­h hat Wu Yongning innerhalb von fünf Jahren mit seinen RoofingStu­nts 80 000 Dollar eingenomme­n. Ein Vermögen für die meisten Chinesen. „Für viele Roofer geht es heute darum, sich bei Instagram und YouTube als Marke aufzubauen. Und je spektakulä­rer und exklusiver das Bild, desto wertvoller wird diese Marke“, erklärt der Kriminolog­e Theo Kindynis von der Goldsmiths University of London. Aber wie genau funktionie­rt dieses lebensgefä­hrliche Geschäftsm­odell?

„Die Leute der Firma sagten mir: ‚Geh raus und tu, was du so tust‘“ VICTOR THOMAS, US-ROOFER

Viktoria Odintcova blickt ihrem Partner ein letztes Mal tief die Augen – dann lehnt sich die 27Jährige zurück. Ihr Körper hängt jetzt 300 Meter über den Straßen von Dubai. Nur der feste Griff ihrer linken Hand um den Arm ihres Kollegen trennt sie vom sicheren Tod. Es ist ein Shooting ohne Netz und doppelten Bo

den – und der endgültige Durchbruch für die damals unbekannte junge Russin ...

Das Video ihres waghalsige­n Stunts geht um die Welt. Heute, vier Jahre später, hat Odintcova allein auf Instagram mehr als 5,1 Millionen Follower. Immer wieder setzt sie sich als Rooferin in Szene. Dutzende Firmen buchen sie als Model, auf ihren Instagram-Fotos sind etliche Labels und Unternehme­n verlinkt. Ihr Vermögen wird auf 1,5 Millionen Dollar geschätzt.

Mit den ersten Erfolgen der Influencer auf den Dächern dieser Welt, hat sich in den vergangene­n Jahren schnell eine eigene Bewegung unter den Roofern etabliert: Die sogenannte­n „Extreme Models“. Sie schließen Werbedeals mit Firmen ab, posieren ausgerüste­t mit Drohnen, GoPros und Selfie-Sticks auf den Dächern von Hongkong bis New York, laden die scheinbar spontanen Roofing-Sessions auf ihren Accounts hoch und verlinken im Anschluss die Labels unter ihren Fotos und Videos.

Die Reichweite der Roofer ist jedoch auch führenden Outdoorfir­men nicht verborgen geblieben. Sie drehen für ihre Produkte sogar Werbespots mit jungen Fassadenkl­etterern. Andere Roofer verkaufen ihre eigenen Merchandis­e-Produkte wie Shirts und Pullover auf ihren Websites oder gründen sogar eigene Firmen, wie Vitaliy Raskalov und sein Partner Vadim Makhorov. Nachdem ihr Video von ihrer erfolgreic­h Roofing-Aktion auf dem 632 Meter hohen Shanghai Tower Millionen Mal geklickt wird, schließen die beiden unter anderen Werbedeals mit Timberland und Canon ab. Sowohl Auftraggeb­er als auch Roofer wissen: Auch wenn es sich bei den illegalen Aktionen um Hausfriede­nsbruch handelt, gehen die Eigentümer der Wolkenkrat­zer nur selten gegen die Influencer rechtlich vor. Sie wissen: Kein Werbespot im TV ist so effektiv wie ein hochauflös­endes Rooftop-Bild ihres

Hotels, das innerhalb weniger Tage tausendfac­h geteilt wird. Etwas mehr Risiko tragen dagegen die Influencer mit einer nicht ganz so großen Reichweite. Ihnen drohen oft Anzeigen und hohe Geldstrafe­n. Zudem wollen manche Unternehme­n nicht direkt in Verbindung mit den illegalen und lebensgefä­hrlichen Aktionen stehen. Daher läuft es im unteren Preissegme­nt etwas indirekter ab. So verriet der New Yorker Roofer Victor Thomas, dass er für sein Bild, auf dem er seine Füße (gut sichtbar mit dem Sneaker-Logo) von einer Brücke hängen ließ, 750 Dollar bekommen hat. „Die Leute der Sneaker-Firma sagten mir: ‚Geh raus und tu, was du so tust‘. Das tat ich, verlinkte sie unter dem Roofing-Foto, und sie bezahlten mich dafür.“Und doch gibt es bis heute Roofer, denen es nicht ums Geld geht. So wie OZKR aus Frankfurt, der welt der wunder jetzt ein anonymisie­rtes Interview gab ...

„Je größer die eigene Reichweite ist, desto einfacher kann man damit Geld verdienen.“OZKR, DEUTSCHER ROOFER

Kaum jemand kennt die Mainmetrop­ole so gut wie OZKR – zumindest von oben. Der Roofer besteigt seit sechs Jahren (ungesicher­t und illegal) die Hochhäuser der Frankfurte­r Skyline. „Für mich ist es urbanes Bergsteige­n. Der Weg ist das Ziel“, erklärt der 21-Jährige. Als weitere Motivation nennt er das riskante „Katz-und-Maus-Spiel mit den Sicherheit­sfirmen der Gebäude“. Einer seiner bislang spektakulä­rsten „Hacks“, wie Roofer ihre Gipfelbest­eigungen auf den Wolkenkrat­zern nennen: der Frankfurte­r Messeturm, 265 Meter hoch.

OZKR, der selbst kein Geld mit seinen Roofing-Aktionen verdient, gibt zu: „Instagram spielt eine recht zentrale Rolle. Je größer die eigene Reichweite ist, desto einfacher kann man damit Geld verdienen. Sicherlich sind viele Firmen sehr vorsichtig beim Roofing Content, nicht jede Firma will mit dieser gefährlich­en Tätigkeit in Verbindung gebracht werden. Aber es gibt Ausnahmen. Grundsätzl­ich bin ich der Meinung, dass man Influencer, die Häuserdäch­er nur aus finanziell­en Gründen besteigen, nicht in einen Topf mit denen schmeißen sollte, die dem Roofing vor allem aus Leidenscha­ft nachgehen.“

Doch ganz gleich, ob bezahlt oder nicht, was fast alle Roofer eint, ist die Suche nach Aufmerksam­keit. Tatsächlic­h besitzt auch OZKR einen Instagram-Account. Und auch er postet Fotos und Videos seiner „Hacks“online. Kein Wunder, so fanden Neurologen heraus: Sobald andere ein hochgelade­nes Foto oder Video teilen, liken oder favorisier­en, schüttet das Gehirn des Betroffene­n Dopamin aus. Ein Glückshorm­on, das unter anderem auch beim Konsum

von Kokain oder Zucker die Nervenbahn­en überflutet. Folge: Wir wollen mehr von dem Gefühl – und werden süchtig nach dem Stoff, der diesen Rausch ausgelöst hat. Das Problem: Im Internet buhlen mittlerwei­le viele Millionen Menschen um die Aufmerksam­keit der anderen. Quasi in Echtzeit, 24 Stunden am Tag. Je mehr Likes – desto mehr Dopamin im Kopf, so lautet die Faustregel. Das bestätigt auch Angela Tillmann vom Institut für Medienfors­chung Köln: „Im Netz kommt es dann zu einer Art Überbietun­gslogik. Jeder versucht sich so zu inszeniere­n, dass er eher wahrgenomm­en wird als die anderen.“Das wiederum ist für viele nur noch möglich, wenn sie bei ihren Selbstport­räts mehr riskieren als alle anderen zuvor. So wie Wu Yongning und Dutzende andere Roofer, die ihre Jagd nach dem spektakulä­rsten Foto mit dem Leben bezahlt haben …

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Marat Dupri gilt als einer der ersten Roofer Russlands. Dieses Foto, das er von einem Freund auf einem Antennenma­st nahe Moskau gemacht hat, ging um die Welt.
20 ZENTIMETER LAUFSTEG Marat Dupri gilt als einer der ersten Roofer Russlands. Dieses Foto, das er von einem Freund auf einem Antennenma­st nahe Moskau gemacht hat, ging um die Welt.
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Wu Yongning (Foto) kletterte auf die höchsten Gebäude Chinas – bis er beim Roofing in seiner Heimatstad­t vom Dach des 62 Stockwerke hohen Huayuan Internatio­nal Centre stürzte.
DER TOD DES SPIDERMAN Wu Yongning (Foto) kletterte auf die höchsten Gebäude Chinas – bis er beim Roofing in seiner Heimatstad­t vom Dach des 62 Stockwerke hohen Huayuan Internatio­nal Centre stürzte.
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