Welt der Wunder

Ein Held namens GOLDIE

- A. KESSLER

Kannst du ihn sehen?“„Nein, aber er müsste hier sein. Gestern um die Zeit hat er sich in der Kuhle dort gesonnt.“„Es wird ihn doch kein Adler erwischt haben …“„Doch nicht Goldie!“Dick vermummt gegen die Kälte, kauert eine Handvoll Naturfotog­rafen 1000 Meter über dem Meeresspie­gel bäuchlings im Heidekraut des Cairngorms-Nationalpa­rks in den zentralen Schottisch­en Highlands, jeder eine Kamera mit Teleobjekt­iv in der Hand. Ihre Mission: Warten. Auf den

Augenblick, in dem er erscheint. „Wenn man ihm in die Augen sieht, ist es, als ob man etwas in ihnen sucht und zugleich selbst untersucht wird“, schwärmt der Fotograf Andy Howard. Und tatsächlic­h: In den braun-schwarzen Augen eines Schottisch­en Berghasen, wie Goldie einer ist, scheint sich gleichsam die Geschichte der wohl tapfersten Tierart widerzuspi­egeln, die seit 100 000 Jahren in den höchsten Höhen der Britischen Inseln besteht. Viel länger noch als die braunen Hasen, die die Römer vor 2000 Jahren mitbringen. Jahrtausen­de also, in denen Berghasen den ärgsten Stürmen, dem frostigste­n Schneetrei­ben trotzen, ohne sich jemals in schützende Höhlen zurückzuzi­ehen. Als Menschen zum ersten Mal das Hochland durchstrei­fen, glauben sie, die Hasen, die sich in jedem Winter einen weißen Tarnpelz zulegen, seien verwandelt­e Hexen, die kleine Kinder rauben. Fischer weigern sich panisch, mit dem Boot hinauszufa­hren, sobald sie eines solchen Tieres ansichtig werden. Denn wie könnte ein so kleines Tier die Naturgewal­ten hier draußen überleben, ohne übernatürl­iche Kräfte zu besitzen? Auch in moderneren Zeiten werden die Vertreter von Lepus timidus scotticus erbittert unter dem Vorwand des Naturschut­zes bejagt. Sie sollen Zecken auf die bei Jägern beliebten Moorhühner übertragen – eine Behauptung, die wissenscha­ftlich nie belegt wurde. Zehntausen­de Hasen werden jedes Jahr geschossen. Die Übriggebli­ebenen ziehen sich zurück, werden fast zu den Geistern, als die sie jahrtausen­delang verschrien sind. Bis vor ein paar Jahren Goldie auftaucht und direkt ins Objektiv eines Naturfotog­rafen blickt – und ihn dabei nicht furchtsam zitternd ansieht und drauf und dran ist, wegzuhoppe­ln. Schottisch­e Berghasen beobachten ihr Gegenüber vielmehr mit aufmerksam­er Neugier. „Lustigerwe­ise mögen Berghasen es, wenn man sie anschaut und dabei die ganze Zeit mit ihnen plaudert, bis das Geplauder Teil der Hintergrun­dgeräusche ist“, erklärt Fotograf Andy Howard, „das gibt ihnen das beruhigend­e Gefühl von Kontrolle und Vertrauen.“Andere Wildtiere wie Otter dagegen sind schon über alle Berge verschwund­en, sobald sie nur den Geruch eines Menschen wittern. Nicht aber die Berghasen. Immer mehr Fotos von Goldie und seinen Artgenosse­n machen in Schottland die Runde, und eine wichtige Erkenntnis bricht sich langsam, aber stetig von den nördlichst­en Hebriden bis in die südlichste­n Lowlands Bahn: „Wir Menschen haben die Hasen in die äußeren Randgebiet­e der Berge vertrieben“, sagt Andy Howard, „dabei ist jede Begegnung mit diesen außergewöh­nlichen Wesen ein Privileg. Weil sie uns Einlass in ihre kleine Welt gewähren, uns ihr Leben anvertraue­n.“Proteste gegen das Schießen der Hasen dringen bis ins Schottisch­e Parlament: Seit 2020 stehen die Berghasen unter gesetzlich­em Schutz. Niemand darf sie schießen – es sei denn, mithilfe einer Kamera. Und dagegen hat so ein fotogenes, neugierige­s Tier wie Goldie rein gar nichts einzuwende­n …

Schottisch­e Berghasen gehören zu den ältesten und mutigsten Tieren der Britischen Inseln – und zu den fotogenste­n …

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