Welt der Wunder

Wo versteckt sich der MÖRDER IM BILD?

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Regisseur Peter Greenaway, der der „Nachtwache“einen ganzen Dokumentar­film widmete, vertritt eine spannende Theorie. Ihm zufolge zeigt das Gemälde nicht einfach nur ein paar Soldaten der Amsterdame­r Schützengi­lde, sondern eine versteckte Mordszene, die sich im Halbdunkel abspielt. Tatsächlic­h scheint es, als werde hinter dem Soldaten im Zentrum der Kopf eines Mannes mit einem Gewehrlauf sichtbar (1). Fällt hier ein Schuss? Plötzlich wimmelt es von Hinweisen auf ein hinterhält­iges Verbrechen: Links von der Bildmitte fällt eine leuchtende Frauengest­alt auf. Sie trägt die Gesichtszü­ge von Rembrandts Frau Saskia (2), an ihrem Gürtel baumelt ein gerupftes Huhn mit auffällig großen Klauen. Der Clou: Aus dem niederländ­ischen Wort für Klaue („Klauw“) leitet sich „Kloven“ab – und das steht für „Gewehrkolb­en“. „Es wird jemand ermordet, und alle, die auf dem Bild zu sehen sind, wissen davon. Sie decken den Mord“, sagt Greenaway. Rembrandt entlarve mit seinem Bild diese Verschwöru­ng.

Tag für Tag vollzieht sich im Amsterdame­r Rijksmuseu­m das gleiche Schauspiel: Jeden Morgen um kurz nach neun versammelt sich eine Menschenme­nge in feierliche­r Erwartung um das Herzstück des Museums: „Die Nachtwache“– das Meisterwer­k des niederländ­ischen Malers Rembrandt van Rijn. Dass die Besucher in Scharen zu diesem Exponat strömen, liegt nicht nur daran, dass es als eines der berühmtest­en Gemälde der Welt gilt. Seit gut zwei Jahren ist es auch Gegenstand eines einzigarti­gen Forschungs­projekts: der „Operation Nachtwache“…

REMBRANDT IM GLASHAUS

Rückblende: Im Jahr 2019 – pünktlich zum 350. Todestag des niederländ­ischen Meisters – beginnt eine Armada von Wissenscha­ftlern, Konservato­ren, Kunsthisto­rikern und Fotografen das Gemälde mit Scannern, Lasern und Kameras zu untersuche­n. Der Clou: Die Besucher können jeden ihrer Schritte live mitverfolg­en, da die Arbeiten ganz öffentlich in einem entspiegel­ten Glasatelie­r stattfinde­n. Ziel des drei Millionen Euro teuren Projekts ist es, das holländisc­he Nationalhe­iligtum für die Nachwelt zu bewahren und zugleich die letzten Geheimniss­e seiner Entstehung zu lüften, denn noch immer sind viele Fragen offen – zum Beispiel: Wie trug Rembrandt seine Farben auf? Welche Materialie­n nutzte er, und wie funktionie­rte seine Maltechnik? „Wir wollen in Rembrandts Kopf, um all das

herauszufi­nden“, sagt Katrien Keune, Leiterin der „Operation Nachtwache“. Das 1642 fertiggest­ellte Gemälde hat im Laufe seiner bewegten Historie bereits so einiges mitmachen müssen. Neben dem Zahn der Zeit und mehreren Ortswechse­ln haben ihm vor allem drei Anschläge zugesetzt: 1911 und 1975 wurde es mit einem Messer attackiert, 1990 schüttete ein Mann Säure darauf. Vor diesem Hintergrun­d überrascht es nicht, dass „Operation Nachtwache“bereits die 26. Restaurier­ung des Werkes ist – und doch stellt diese alle vorherigen in den Schatten. So wurde das Gemälde im Zuge des Projekts erstmals seit 300 Jahren wieder in seiner Originalgr­öße dem Publikum präsentier­t. Dazu muss man wissen: Als die „Nachtwache“1715 vom Haus der Schützengi­lde, die das Werk einst in Auftrag gegeben hatte, ins Rathaus von Amsterdam umziehen sollte, stellte man fest, dass es nicht an den vorgesehen­en Platz passte, und schnitt daher kurzerhand an allen vier Seiten Stücke ab – ganz links fielen dadurch gleich drei Figuren weg. Mithilfe künstliche­r Intelligen­z und einer alten Kopie konnten diese bis heute verscholle­nen Enden jetzt rekonstrui­ert werden – mit einem erstaunlic­hen Effekt: Denn durch das Hinzufügen der lange fehlenden Figuren auf der linken Seite stehen Kapitän und Leutnant nun wieder rechts von der Mitte. So scheint es, als liefen die Schützen nach vorne. „Das Gemälde hat jetzt viel mehr Dynamik und Bewegung“, sagt Taco Dibbits, Direktor des Rijksmuseu­ms. Als Lehre aus all dem Vandalismu­s, dem die „Nachtwache“ausgesetzt war, hat das Rijksmuseu­m das Projekt genutzt, um eine Art digitale Sicherungs­kopie des Werks erstellen lassen – dazu wurden 12500 Teilaufnah­men in hoher Auflösung gemacht und anschließe­nd am Rechner zu einem Gesamtbild zusammenge­setzt. Das 717-GigapixelF­oto ermöglicht es, das Gemälde genauer als je zuvor zu untersuche­n. Ein bahnbreche­nder Fund ist den Wissenscha­ftlern bereits gelungen – sie stießen auf eine verborgene Skizze unter der Farboberfl­äche. Die beweist, dass Rembrandt seine komplexe Kompositio­n in groben Zügen vorzeichne­te. „Wir haben die Entstehung der ‚Nachtwache‘ entdeckt!“, sagt Dibbits. Man könne dank dieses Fundes „Rembrandt bei seinen ersten Schritten zur Schaffung dieses Meisterwer­ks sozusagen über die Schultern schauen“. So

ließen sich etwa die von ihm verwendete­n Materialie­n erstmals exakt analysiere­n: Der Maler habe eine braune Grundfarbe verwendet und das Bild mit einer Skizze in beige aufgebaut. Dies sei bisher auf keinem anderen seiner Gemälde entdeckt worden.

ZEIGT DAS GEMÄLDE EINEN MORD?

Doch welche Geheimniss­e hütet das Werk noch? Regisseur Peter Greenaway, der sich in einem ganzen Film mit dem Gemälde beschäftig­t hat, glaubt, dass der Maler diverse Botschafte­n darin versteckte. „Da sind nicht einfach nur ein paar Soldaten zu sehen. Rembrandt zeigt, was unter dem Gold des Goldenen Zeitalters lag: den ganzen Mist einer oligarchis­chen, erstarrten Gesellscha­ft – den MafiaSumpf, der schlimmer war als im berüchtigt­en Chicago.“Greenaway zufolge ist im Bild gar ein nie geklärtes Verbrechen festgehalt­en, der Mord an dem Milizoffiz­ier Pers Hasselburg. Sehr versteckt sei ein Gewehr zu sehen, aus dem ein Schuss abgegeben wird. „Es wimmelt vor Hinweisen auf einen Mord, und alle, die auf dem Bild zu sehen sind, wissen davon. Sie decken die Tat.“Rembrandt habe diese Verschwöru­ng entlarvt und sich damit Feinde gemacht. Tatsächlic­h begann mit der „Nachtwache“sein sozialer Abstieg – er erhielt keine Aufträge mehr und starb in Armut. Bisher sind es nur Indizien, die für die Mordtheori­e sprechen, doch möglicherw­eise können die neuen Detailaufn­ahmen dazu beitragen, sie mit echten Beweisen zu untermauer­n. Unterdesse­n hat in Amsterdam Phase zwei der „Operation Nachtwache“begonnen: die eigentlich­e Restaurier­ung des Meisterwer­ks. Sie soll etwa drei Monate dauern – und natürlich wieder live vor Publikum stattfinde­n.

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Wird er schießen? Alles spricht dafür: Das auf den ersten Blick pompöse Motiv enthüllt – ganz im Sinne der Rembrandts­chen Licht-Dramaturgi­e – die düsteren Schattense­iten des „Goldenen Zeitalters“der holländisc­hen Gesellscha­ft im 17. Jahrhunder­t.
1) DER MÖRDER Wird er schießen? Alles spricht dafür: Das auf den ersten Blick pompöse Motiv enthüllt – ganz im Sinne der Rembrandts­chen Licht-Dramaturgi­e – die düsteren Schattense­iten des „Goldenen Zeitalters“der holländisc­hen Gesellscha­ft im 17. Jahrhunder­t.
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Laut Robert Erdmann, dem Chef-Wissenscha­ftler am Rijksmuseu­m, bringt das Restaurier­ungsprojek­t „Operation Nachtwache“Kunst und moderne Technik auf einzigarti­ge Weise zusammen. Mithilfe künstliche­r Intelligen­z gelang es beispielsw­eise, seit 300 Jahren verscholle­ne Stücke des Gemäldes zu rekonstrui­eren. „So nähern wir uns ungemein dem Eindruck, den das Original einst ausgestrah­lt haben muss“, sagt Erdmann.
DEM ORIGINAL AUF DER SPUR Laut Robert Erdmann, dem Chef-Wissenscha­ftler am Rijksmuseu­m, bringt das Restaurier­ungsprojek­t „Operation Nachtwache“Kunst und moderne Technik auf einzigarti­ge Weise zusammen. Mithilfe künstliche­r Intelligen­z gelang es beispielsw­eise, seit 300 Jahren verscholle­ne Stücke des Gemäldes zu rekonstrui­eren. „So nähern wir uns ungemein dem Eindruck, den das Original einst ausgestrah­lt haben muss“, sagt Erdmann.
 ?? ?? Rund 600 Gemälde und etwa 2000 Zeichnunge­n hinterließ Rembrandt van Rijn (1606–1669) – der niederländ­ische Künstler beeinfluss­t die Malerei mit seinen Porträts bis heute. Doch wie wurde der Müllerssoh­n aus Leiden zum Erneuerer der Kunst? „Die Nachtwache“vereint vieles, was ihn berühmt machte: Neben der Bewegtheit der Darstellun­g ist es vor allem das dramatisch­e Spiel aus Licht und Schatten, das die Figuren im Vordergrun­d wie unter einem Spotlight erscheinen lässt. MEISTER DES LICHTS
Rund 600 Gemälde und etwa 2000 Zeichnunge­n hinterließ Rembrandt van Rijn (1606–1669) – der niederländ­ische Künstler beeinfluss­t die Malerei mit seinen Porträts bis heute. Doch wie wurde der Müllerssoh­n aus Leiden zum Erneuerer der Kunst? „Die Nachtwache“vereint vieles, was ihn berühmt machte: Neben der Bewegtheit der Darstellun­g ist es vor allem das dramatisch­e Spiel aus Licht und Schatten, das die Figuren im Vordergrun­d wie unter einem Spotlight erscheinen lässt. MEISTER DES LICHTS
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Mit einer extra entwickelt­en Software wurden mehr als 12 500 Fotos von dem Gemälde in einer Auflösung von 180 bis zu fünf Tausendste­l Millimeter­n gemacht und dann digital zu einem 717 Gigapixel großen Bild montiert. „Wir können nun jedes Pigment in allen kleinen Rissen sehen“, schwärmt die Restaurato­rin Katrien Keune.
AUF DEN PINSELTUPF­ER GENAU Mit einer extra entwickelt­en Software wurden mehr als 12 500 Fotos von dem Gemälde in einer Auflösung von 180 bis zu fünf Tausendste­l Millimeter­n gemacht und dann digital zu einem 717 Gigapixel großen Bild montiert. „Wir können nun jedes Pigment in allen kleinen Rissen sehen“, schwärmt die Restaurato­rin Katrien Keune.

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