Wertinger Zeitung

Vergessen, verraten, verstoßen

Immer mehr Frauen in Indien trauen sich, Vergewalti­gungen anzuzeigen. Doch dann folgt meist Ernüchteru­ng. Opfer werden eingeschüc­htert

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dentin Jyoti Singh in einem Stadtbus in der Hauptstadt Neu-Delhi auch internatio­nal Schlagzeil­en. Ihr Tod sorgte in Indien für wochenlang­e Straßenpro­teste. Die Regierung verschärft­e als Reaktion darauf das Strafmaß bei Vergewalti­gung. Von „Vergewalti­gungskultu­r“und „Vergewalti­gungsepide­mie“war die Rede. Mehr als vier Jahre nach dem Tod der jungen Studentin bestätigte Indiens oberstes Gericht die Todesstraf­e für vier Männer wegen Mordes und Massenverg­ewaltigung. Die Richter nannten das Verbrechen „barbarisch“und „pervers“. Der Vater der ermordeten Jyoti Singh gab sich mit dem Urteil zufrieden: „Ich kann heute Nacht ruhig schlafen“, kommentier­te er die Entscheidu­ng.

Doch nicht alle jubeln: „Indien kann seine Vergewalti­gungskultu­r nicht durch das Hängen von Jyoti Singhs Mördern verstecken“, kritisiert­e Ashley Tellis, ein Menschenre­chtsaktivi­st aus Chennai. Er erinnerte an die vielen Verbrechen, die gar nicht erst angezeigt werden: an sexuelle Gewalt gegen Dalit-Frauen, die auf der sozialen Leiter ganz unten stehen, oder an die Frauen aus Nepal, deren Vergewalti­gung niemanden kümmere. „Das Rechtssyst­em versagt immer noch gegenüber den Opfern“, sagt auch die bekannte indische Anwältin Vrinda Grover.

Zwar habe seit 2012 die Zahl der Anzeigen zugenommen, doch die Zahl der Verurteilu­ngen sei gleich geblieben. Laut Polizeista­tistik wurden 2015 mehr als 34 000 Vergewalti­gungen registrier­t. Die Verurteilu­ngsrate lag jedoch bei unter 30 Prozent. Die ganze Diskussion um die Todesstraf­e für Vergewalti­ger lenke nur von den eigentlich­en Problemen ab, sagt Grover. „Wir müssen darüber reden, wie die Polizei funktionie­rt.“

Grover ist der Rechtsbeis­tand für eine Gruppe muslimisch­er Frauen, die während der Unruhen im September 2013 in Muzaffarna­gar, im Bundesstaa­t Uttar Pradesh, massenverg­ewaltigt wurden. Das Verfahren werde systematis­ch verschlepp­t, die Opfer würden eingeschüc­htert. „Das Ganze geht so lang, bis die Frau sagen müssen: Ich bin von einer Gruppe von Männern vergewalti­gt worden, aber ich kann die Täter nicht identifizi­eren“, sagt Grover. Inzwischen sei nur noch eine Frau überhaupt bereit, Aussagen vor Gericht zu machen. Immer noch suchen viele in Indien die Schuld lieber bei den Opfern als bei den Tätern: Einer der Mörder von Jyoti Singh sagte im Prozess, die junge Frau könnte heute noch leben, wenn sie sich nicht gewehrt hätte. Außerdem hätten „ehrenwerte Frauen“nachts nichts auf der Straße zu suchen. Und Indiens Frauenmini­sterin Maneka Gandhi beschimpft­e kürzlich die Medien, das Problem künstlich aufzubausc­hen. Indien sei eines der vier Länder der Welt mit den wenigsten Vergewalti­gungen. Schweden hingegen habe mehr als 30 Mal so viele. „Wir haben null Toleranz bei Vergewalti­gungen, und unsere Zeitungen schreiben jeden Tag darüber“, sagte Gandhi. Darauf hingewiese­n, dass im Gegensatz zu Schweden in Indien die Vergewalti­gung in der Ehe keine Straftat darstelle, ließ die Ministerin nur wissen, dass westliche Werte nicht ohne Weiteres auf Indien übertragba­r seien.

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