Alle wollen nach Italien
Die Flüchtlingskrise ist noch lange nicht bewältigt, nur weil der Türkei-Pakt hält und die Balkanroute geschlossen ist. Nun baut sich im Lieblings-Urlaubsland der Deutschen ein neues Problem auf. Entwicklungsminister Müller sagt: Es ist beschämend
Rom Das Foto hat die Welt erschüttert. Es zeigt die Leiche eines kleinen Flüchtlingsbuben aus Syrien, die das Meer an einen türkischen Strand gespült hat. Der dreijährige Aylan Kurdi ist ertrunken bei dem Versuch, sich in Europa in Sicherheit zu bringen. Das Foto des toten Kindes, das im roten T-Shirt und kurzer blauer Hose im Sand liegt, ist zum Symbol der Flüchtlingstragödie im Mittelmeer geworden. Die Betroffenheit und das Entsetzen sind groß, der Aufschrei auch. Wie damals, im Oktober 2013, als vor Lampedusa ein Holzkutter sinkt – und mindestens 390 Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia umkommen.
Und heute? Ist das Drama auf den rund 300 Kilometern Meer zwischen der libyschen und der italienischen Küste Alltag geworden – obwohl dort gerade wieder ein riesiges Problem für Europa entsteht.
Man hat sich an die Meldungen von untergegangenen Booten und hunderten Frauen, Männern und Kindern gewöhnt, die fast täglich aus Seenot gerettet werden. Und an die Meldungen von Flüchtlingen, die tot im Wasser treiben. Im Mittelmeer wird weiter gestorben, mehr denn je. 1530 Menschen sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in diesem Jahr schon umgekommen oder gelten als vermisst. Zum Jahresende werden es vermutlich 5000 sein. Denn nach Schätzungen von UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, überlebt jeder 35. die gefährliche Überfahrt nicht. Jetzt, im Frühsommer, wenn das Wetter gut ist und das Meer ruhig, ist Hochsaison für die skrupellosen Menschenhändler, für die Flüchtlinge aus Afrika wertlose Ware sind, mit der sich viel Geld verdienen lässt. „Das ist absolut inakzeptabel, dass wir uns mit 5000 Toten im Mittelmeer abfinden“, sagt Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Er ist im Vorfeld des G7-Gipfels in Taormina nach Italien gereist, um sich ein Bild von der Flüchtlingshilfe und der Seenotrettung in dem Land zu machen, das EU-weit aktuell die Hauptlast trägt.
Nicht umsonst hat Italien für das Treffen der Staats- und Regierungschefs den symbolträchtigen Ort in Sizilien gewählt, wo sich nur wenige Kilometer weiter im Mittelmeer eine humanitäre Katastrophe abspielt. Nicht umsonst ist Papst Franziskus damals bei seiner ersten Reise und als erstes katholisches Kirchenoberhaupt nach Lampedusa gefahren. Zu jenem Zipfel aus Sand und Felsen, mitten im Meer, 200 Kilometer südlich von Sizilien, an dem so viele Flüchtlinge stranden.
In dieser Woche hat Müller dem Papst bei einem kurzen Treffen nach der Generalaudienz seinen Marshallplan für Afrika vorgestellt. „Und der Papst hat gestrahlt“, berichtet der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, der mit dabei war. „Weil er gesehen hat, dass er in dem deutschen Minister einen Mitstreiter hat.“
Denn die aktuellen Flüchtlingszahlen sind wieder alarmierend, die EU-Länder sind aufgeschreckt. Laut der europäischen Grenzschutzagentur Frontex sind in den ersten vier Monaten dieses Jahres deutlich mehr Migranten als 2016 übers Mittelmeer nach Italien gekommen. Bis heute sollen es rund 45 000 sein, das sind etwa 42 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Das italienische Innenministerium spricht sogar von 50 000. Da die Balkanroute seit dem EU-Türkei-Abkommen und der Schließung der Grenzen entlang der Strecke weitgehend dicht ist, rollt die neue Flüchtlingswelle aus Afrika fast ausschließlich über Italien an.
„Die zentrale Mittelmeerroute wird auch 2017 am stärksten genutzt“, warnten in der vergangenen Woche Bundesinnenminister Thomas de Maizière und sein italienischer Kollege Marco Minniti die EU-Kommission in einem Brief. Und: „Unsere bisherigen Maßnahmen sind unzureichend.“
88 Prozent aller Migranten aus Afrika – aus Nigeria und der Elfenbeinküste, Gambia, Senegal, Guinea oder Somalia – kommen in Italien an. 181 000 waren es 2016. Für dieses Jahr liegt die Prognose von UNHCR bei 250 000. Und während Italien die Flüchtlinge 2015 einfach durchgewunken hat in Richtung Norden, halte sich das Land jetzt an die Dublin-Verordnung, nach der in der EU Asylanträge grundsätzlich im Ankunftsland gestellt werden müssen, heißt es bei der IOM. Italien registriert die Ankommenden, nimmt auch selber auf – und behält damit den Großteil der Migranten im Land.
„Es ist beschämend“, betont der Allgäuer CSU-Politiker Müller immer wieder, „wie Italien von den Freunden in Europa alleingelassen wird.“Weil sie sich nicht an die Zusage halten, Italien zu entlasten. Der Umverteilungsplan der EU für 160 000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien wird von vielen Mitgliedstaaten einfach ignoriert. Einzig Deutschland habe 1,2 Millionen Menschen in Not aufgenommen: Kriegsflüchtlinge aus Syrien oder dem Irak und Migranten aus Afrika. „Die anderen europäischen Länder“, sagt Müller, „könnten da sehr viel mehr tun.“Die Migration aus Afrika sei eine Jahrhundertherausforderung für Europa – und kein italienisches Problem.
Im „Casa di Giorgia“trifft Minister Müller, der sich salopp als „deutscher Flüchtlingsminister“vorstellt, Ida aus Gambia, Susi aus Kamerun, Loa aus der Elfenbeinküste und Paulina aus Nigeria. Das Haus in Rom, in dem 30 Frauen und ihre Kinder Zuflucht gefunden haben, gehört zum Centro Astalli, einer Flüchtlingsorganisation der Jesuiten. Zu viert teilen sich die Frauen ein Zimmer, und Flora aus dem Kongo hat für alle überbackenen Fenchel gemacht. Im Garten unter den schattenspendenden Bäumen erzählen die Frauen ihre Geschichten. Sie handeln von Folter, Krieg und Not, von Angst und Hunger, von der Heirat mit 15 Jahren und von Zeiten, als kaum noch ein Knochen in ihrem Körper heil war.
Die Mitarbeiter des Centro Astalli helfen den Frauen zurück ins Leben. Sie bringen ihnen die Sprache bei, kämpfen mir ihnen gegen abgelehnte Asylanträge, geben ihnen Sicherheit und Selbstvertrauen. Hier lernen Ida, Susi und Paulina, dass sie als Menschen einen Wert haben und dass es ein Leben in Frieden gibt. 15000 Flüchtlinge nutzen pro Jahr die Angebote der katholischen Einrichtung allein in Rom, 2016 waren es mehr als doppelt so viele.
Das größte Problem aber, sagt Pater Camillo Ripamonti, der Präsident des Centro Astalli, ist die europäische Flüchtlingspolitik. „Ich bin besorgt darüber, dass Europa dabei ist, das Asylsystem zeitlich begrenzt zu gestalten.“Es werde nicht berücksichtigt, dass die Menschen sich integriert haben. Und dass jeder eine eigene Entscheidung treffen darf. Loa zum Beispiel macht eine Ausbildung zur Krankenpflegerin, Ida jobbt als Dolmetscherin und Susi als Zimmermädchen in einem Hotel. „Diese Integration war eine gewaltige Anstrengung für die Frauen, die sie gemeistert haben“, sagt Ripamonti, „da kann es nicht angehen, dass die Politik sie zwingt, zurückzugehen.“
An dieser Stelle prallt die humanitäre Sicht des Kirchenmannes auf die des Politikers Müller. Der sagt: „Wir können das Migrationsproblem nicht dadurch lösen, indem wir alle zu uns nach Europa lassen.“Dann predigt der Minister das, was er den Verantwortlichen in Europa seit Beginn seiner Amtszeit vor knapp vier Jahren einzutrichtern versucht: Dass sich der afrikanische Kontinent in den nächsten 30 Jahren verdoppeln wird. Dass die junge Bevölkerung dort Jobs braucht, um eine Chance zu haben. Dass Kriege und Hunger gestoppt werden müssen, die Menschen aus ihren Heimatländern treiben.
Dazu brauche es ein neues, einheitliches, europäisches Asyl-, Einwanderungsund Ausländerrecht. „Wenn wir das nicht hinbekommen, werden in den nächsten Jahren Millionen Flüchtlinge zu uns kommen“, prophezeit Müller. Und nennt es „einen Skandal“, dass von den vier Milliarden Dollar, die die Vereinten Nationen zur Bekämpfung der aktuellen Hungerkrise in Ostafrika brauchen, gerade einmal eine Milliarde zusammengekommen ist. Ein US-Präsident Donald Trump aber gerade bei seinem Besuch in Saudi-Arabien einen 100-Milliarden-Wirtschaftsdeal mit den Saudis abgeschlossen hat.
500000 bis 800000 Menschen, schätzt UNHCR, warten schon heute in Libyen – dem wichtigsten Transitland nach Europa – auf eine Chance, übers Mittelmeer nach Italien zu kommen. Denen müsse man Perspektiven für eine Rückkehr in ihr Heimatland eröffnen. „Doch die Zustände in den Flüchtlingslagern sind an Dramatik nicht zu überbieten“, sagt Müller. Wer nach einem halbjährigen Marsch durch die Wüste „gefoltert, geschlagen und ausgehungert in einem Keller in Libyen liegt, der sieht keinen anderen Weg, als über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen“. Da die Weltgemeinschaft seinerzeit das Regime in Tripolis gestürzt habe, müsse sie jetzt Verantwortung für die weitere Entwicklung übernehmen. Müller fordert eine UN-Mission für Libyen, die in den Übergangslagern für humanitäre Mindeststandards sorgt. Denn die Flüchtlingscamps in dem Land sind die einzigen weltweit ohne die Aufsicht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR.
Zwischen Libyen und Italien patrouillieren seit Juni 2015 Schiffe der EU-Mission „Sophia“, die Schlepper fangen und deren Boote zerstören sollen – mit mäßigem Erfolg. 432 Boote haben die Soldaten aus 25 Staaten seither versenkt und 109 Menschenhändler gefasst. Aber: Sie haben auch gut 36000 Flüchtlinge aus Seenot gerettet. „Denn jetzt“, erzählt Marine-Kapitän Antonello de Renzis Sonnino, „schicken die Schlepper die Menschen in
Es ist Hochsaison für die skrupellosen Schleuser Die Sache mit dem Friedensnobelpreis
Schlauchbooten los.“Die meist noch in den libyischen Hoheitsgewässern untergehen, in denen die italienische Küstenwache nicht eingreifen darf. Die Holzkutter von früher sind den Verbrechern zu teuer geworden, seitdem die EU-Patrouillen sie zerstören. Die billigen Gummiboote aus Asien, die von ganz schlechter Qualität sind, gibt es im Internet für 400 Dollar. In diese Boote für maximal 15 Leute stopfen die Schlepper in einer Art menschlichem Puzzle bis zu 140 Flüchtlinge. Und jeder von ihnen zahlt zwischen 2000 bis 3000 Euro. Interpol und Europol gehen davon aus, dass die Menschenhändler damit allein im Jahr 2015 mehr als fünf Milliarden Euro eingenommen haben.
Es sind vor allem einige Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die jedes Jahr tausende Migranten aus dem Meer ziehen. Allein die „Aquarius“, das Schiff von SOS Mediterranée, hat im vergangenen Jahr 18000 Menschen aufgenommen. Und wurde kürzlich, wie andere NGOs auch, beschuldigt, mit Schleppern zusammenzuarbeiten. Diese Vorhaltungen seien ausgeräumt, betont der deutsche Entwicklungsminister bei einem Treffen mit den Seenotrettern: „Ich kann niemandem vorwerfen, dass er Menschen rettet.“
Sie und die italienische Küstenwache, sagt Müller, verdienen den Friedensnobelpreis – für ihre Arbeit und für ihre Menschlichkeit. Die EU dagegen, die die Auszeichnung 2012 bekommen hat, sollte ihn angesichts ihres Versagens in der Flüchtlingspolitik zurückgeben.