Jetzt sprechen die 87 Prozent
Nach dem Aufstieg der AfD diskutieren auch viele jüngere Menschen plötzlich über Politik. Eine Generation kommt aus ihrer Wohlfühlecke
VON MICHAEL STIFTER Toleranz pauschal als „Political Correctness“abtut, die auf den „Müllhaufen der Geschichte gehört“. Eine Partei, die ihre Gegner „jagen“will und den zivilisierten Umgang, den die anderen politischen Kräfte über Jahrzehnte etabliert haben, als „Altparteienkartell“lächerlich macht.
Viele junge Deutsche fragen sich, warum es fast sechs Millionen Wählern offenbar egal ist, dass in der AfD auch Platz ist für Rechtsradikale, Rassisten und Verschwörungstheoretiker. Sie fragen sich, was für ein Land und was für ein Volk das sein soll, das sich AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland „zurückholen“will. Sie fragen sich, wie sich unsere Gesellschaft verändert, wenn die politische Debatte nicht mehr auf Lösungen oder Konsens abzielt, sondern auf Abgrenzung und Feindseligkeit. Und wie vorher die Briten, fragen auch sie sich jetzt, warum sie sich das erst jetzt fragen.
In sozialen Netzwerken melden sich gerade viele Menschen zu Wort, die sich vorher höchstens am Rande für Politik interessiert haben. Unter dem Kürzel #87Prozent schreiben sie dagegen an, dass die AfD als Vertreter der anderen knapp 13 Prozent den Ton und die Themen vorzugeben scheint.
Hier spricht auch die Generation Kohl, die sich bislang bequem und weitgehend unpolitisch in ihrer Wohlfühlecke eingerichtet hatte. Erst im Westen, dann im wiedervereinigten, friedlichen Deutschland, das den Kalten Krieg hinter sich gelassen hatte. Es ist eine Generation, die sich heute auch im Merkel-Land ganz wohl fühlt, für die Europa kein Schimpfwort ist und die nicht so recht verstehen konnte, was die Leute meinen, die vor dem Untergang des Abendlandes warnen.
Natürlich kann man dieser Generation jetzt vorhalten, sie hätte sich doch schon vorher engagieren können. Und man kann sie fragen, ob sie überhaupt gewählt hat. Man kann in dem späten Aufschrei aber auch ein gutes Signal sehen. Nach den einschläfernden großkoalitionären Jahren mit selbstverständlichen Mehrheiten braucht dieses Land endlich wieder echte, ergebnisoffene Diskussionen. Mit der AfD wird sich der Ton in der Auseinandersetzung verschärfen. Dass sie die Debatten künftig im Bundestag führt und nicht mehr nur in Talkshow-Sesseln, bietet der politischen Konkurrenz aber auch die Chance, die Partei mit ihren vermeintlich so einfachen Antworten zu entzaubern.
Und wenn junge Menschen dadurch erkennen, dass es eben keine Selbstverständlichkeit ist, jeden Morgen in einem freien und offenen Land aufzuwachen – umso besser.