„Babylon“statt „Ti Amo“
Ein politischer Carpendale? Ja! Denn der hat nicht nur sein Lebenstief überwunden, sondern auch den Schlager – und war Trumps Nachbar
Herr Carpendale, niemand, der „Wenn nicht wir“hört, wird Sie jemals wieder einen Schlagersänger nennen. Howard Carpendale: Das freut mich wirklich sehr. Ich musste 71 Jahre alt werden, um solch ein Album zu machen.
Warum ist Ihnen die Abgrenzung vom Schlager eigentlich so wichtig? Carpendale: Als Südafrikaner wuchs ich mit Elvis, den Beatles, den Rolling Stones auf. Ich kam über Umwege nach Deutschland und wollte in die Musikbranche. Damals, in den Siebzigern, war Schlager das Einzige, das lief. Also habe ich mitgemacht, auch wenn ich als Englisch sprechender Mensch immer eine etwas andere Vorstellung davon hatte, was gute Musik ist. Seit Ende der Achtziger habe ich mich Schritt für Schritt vom deutschen Schlager wegbewegt, und dieses Album ist das Endprodukt dieser Entwicklung.
Ausgerechnet jetzt boomt Schlager wieder. Warum? Carpendale: Der alte Schlager ist viel Nostalgie, gepaart mit dem Verlangen nach Party. Es erinnert viele Leute an früher, und macht den Leuten einfach großen Spaß. Es sind musikalische Glückspillen, mit denen man für einen kurzen Moment die Probleme ausblendet. Letztlich entscheidet das Publikum selbst, was ihm guttut und was es am Ende hören will.
Finden Sie den Wunsch nach Eskapismus dennoch falsch? Carpendale: Ich kann das sehr gut verstehen, dass den Menschen unsere Welt zu kompliziert und zu ernst ist. Die Leute wollen abgelenkt werden, sie wollen den Beat zum Mitklatschen. Balladen und nachdenkliche Lieder haben es in solch einem Umfeld schwer.
Im Lied „Babylon“singen Sie: „Wird diese Welt wie Babylon im Wahnsinn untergehen / Oder können wir das Ding noch drehen?“Was denken Sie? Carpendale: Auf dem Weg, den wir im Moment gehen, werden wir gar nichts mehr drehen können. Es muss etwas passieren. Wir müssen wohl etwas wirklich Einschneidendes erleben, und ich hoffe nicht, dass es ein Krieg sein wird, um zu merken, dass es so nicht weitergeht. Natürlich ist es schwierig, alle Menschen zusammenzubringen, die Skala der Meinungen ist zwischen unterschiedlichen Ländern und auch innerhalb der meisten Länder sehr breit. Aber wir müssen unsere Fähigkeiten, unsere Entwicklung, unseren Wohlstand einsetzen, um voranzugehen.
„Sag mir wer / wenn nicht wir“, so geht der Refrain des Titelsongs. Carpendale: Genau. Der Vorsprung, den wir haben in Ländern wie Deutschland, Österreich, Schweiz, den skandinavischen Ländern, den müssen wir einsetzen. Nehmen wir als Beispiel Homosexualität. In Skandinavien sind sie noch deutlich weiter, was Liberalität und Toleranz angeht, von diesen Gesellschaften können wir lernen. Deutschland muss noch toleranter werden. Ich bin froh, dass ich heute in einem Land lebe, in dem die Menschen heiraten können, wen sie wollen. Mir ist es scheißegal, wer sich liebt. Hauptsache, sie lieben sich. Trotzdem scheint die Mehrheit in unserer Gesellschaft eher auf Hass, Krawall und Gewalt eingestellt als auf Liebe. Mich beschäftigt das sehr.
Ein Bild, wie es gehen könnte, zeichnen Sie in „Füreinander da“. Carpendale: Das ist die zweite Stufe von „Babylon“, einfach umzusetzen im alltäglichen Leben. Wir sind die Typen im Auto, die hupen und den Finger zeigen, die ungeduldig sind und egoistisch. Ich schließe mich da mit ein. Ich bin kein Gutmensch. Ich frage mich nur: Wie sind wir in diese Situation gekommen?
Haben Sie auch eine Antwort? Carpendale: Das ist jetzt ein ziemlicher Schwenk, aber ich bin überzeugt: Ein großes Problem in unserer Gesellschaft ist das Geld. Es ist viel zu wichtig geworden, besonders bei reichen Menschen. Die Armen haben ja nichts. Ich würde es für einen richtigen Weg, zumindest für einen Anfang halten, wenn jeder im Monat 1000 Euro bekommt. Jeder Mensch, der geboren wird, hat ein Recht auf Essen und ein Dach über dem Kopf. Und wenn seine Lebensform Faulheit ist, dann soll er eben faul sein. Aber die Chance, etwas zu bekommen, womit ich etwas aufbauen kann, die ist wichtig. Viele Menschen haben überhaupt keine
Möglichkeit, etwas an ihrer wirtschaftlichen Situation zu ändern. Wir werden nicht glücklich, solange das so bleibt.
Sie sind also für das bedingungslose Grundeinkommen? Carpendale: Das wäre ein Traum. Wir haben es ermöglicht, dass Manager ein Vermögen verdienen und trotzdem Autos verpfuschen und Kunden hinters Licht führen. Wir sind auf zu vielen Irrwegen unterwegs, wir müssen zurück zu mehr Fairness. Und wir müssen ehrlicher werden, mutiger.
Haben Sie ein Beispiel?
Carpendale: Die Mitglieder der Republikanischen Partei in den USA akzeptieren die Machenschaften eines Herrn Trump, um sich ihre Karriere nicht zu verbauen. Die werden teilweise wahnsinnig vor Frust, aber wenn sie aufstehen und sagen: „Mit diesem Mann will ich nichts zu tun haben“– dann haben sie ein Problem. Und so halten sie still, weil ihnen der Posten wichtiger ist als ihr Land. Ihr Land, das wirklich kaputtgemacht wird von einem Menschen, den ich kennengelernt habe, weil ich in seiner Gegend lebte.
Sie haben 20 Jahre in Florida gelebt, praktisch als Nachbar von Donald Trump. Haben Sie mit Golf gespielt? Carpendale: Mit ihm nicht, aber ich habe oft auf seinen Golfplätzen gespielt, ja. Ich weiß, was für ein Mensch er war, bevor er Präsident wurde, nämlich eine Witzfigur. Wir haben immer über ihn geredet, man hört Geschichten und du sprichst mit Menschen, die dir sagen, was für ein unerträglicher Typ das ist. Er wird diese Welt komplett verändern, wenn das so weitergeht.
Ist der Satz „Wie schön wäre die Welt/ wenn es Grenzen nicht gäbe“aus „Füreinander Da“als Ihr Plädoyer für eine freundliche Flüchtlingspolitik zu verstehen?
Carpendale: Die Frage, wie wir mit den Flüchtlingsbewegungen umgehen, ist extrem schwierig. Ich weiß es auch nicht. Ich weiß nur: Es gibt hier kein Schwarz oder Weiß, sondern eine unendlich große Grauzone. Die beste Lösung, die mir derzeit einfällt, lautet: Europa. Wenn alle Länder Europas hier an einem Strang zögen, wäre viel erreicht.
Wie gehen Sie mit dem Spagat um, Erfolg haben zu wollen und zugleich Botschaften zu vermitteln, die vielleicht nicht jedem gefallen? Carpendale: In der Unterhaltungsbranche in Deutschland ist es sehr, sehr schwer, diese Dinge zu koppeln. Aber wenn ich es nicht wenigstens versuche, sehe ich keinen Sinn darin, weiter kreativ zu sein.