Ermordet im Allgäu
Die Nazis brachten in den Nervenheilanstalten Kaufbeuren und Irsee über 1000 psychisch Kranke und Behinderte um. Sie spritzten sie tot oder ließen sie verhungern. Als der Autor Ernst T. Mader vor 35 Jahren dieses dunkle Kapitel ans Licht holt, wird er sog
Blöcktach Eines Abends Ende 1982 – also vor 35 Jahren – klingelt bei Ernst T. Mader im Ostallgäuer Dorf Blöcktach das Telefon. Der 29-Jährige hebt ab – und sieht sich unversehens einer wüsten Beschimpfung ausgesetzt: „Sie Schmierfink“, blökt eine Männerstimme. „Warum ziehen Sie die alten Leute durch den Dreck. Die haben doch nichts dafür gekonnt.“Und: Bei dieser Schimpfkanonade soll es für den jungen Lehrer und Autoren nicht bleiben. Auch auf der Straße wird Mader verbal attackiert. Buchhändler, die seine Schriften im Sortiment haben, erhalten mitunter gar anonyme Drohungen. Und selbst der damalige Bezirkstagspräsident Georg Simnacher, der „Schwabenherzog“, nimmt den promovierten Germanisten ins Visier.
Neun Monate früher: Der heute 64-Jährige hat Besuch von einem Freund, der von weiter weg angereist ist. „Und er fragt mich, ob ich etwas wisse von der Euthanasie, mit der psychisch Kranke in den Nervenheilanstalten Kaufbeuren und Irsee in der Nazizeit umgebracht worden waren.“Der Nachsatz: „Du müsstest doch darüber etwas wissen, du wohnst doch direkt daneben.“Tatsächlich ist Blöcktach quasi nur einen Steinwurf von Irsee entfernt. Zwischen den beiden Ortschaften liegt lediglich ein größerer Forst, der sogenannte Burgwald. Doch Mader muss die Frage seines Freundes verneinen. Ja, dass in den Nervenheilanstalten Menschen umgebracht worden waren – das ist bekannt. Doch die genauen Umstände? Fehlanzeige.
„Ich ärgerte mich in diesem Moment über mich selbst“, erinnert sich Mader, der damals auch als freier Journalist für den Bayerischen Rundfunk arbeitete. Das Morden ist damals etwa 40 Jahre her. Aber niemand weiß etwas Genaues darüber. Dabei muss es zu diesem Zeitpunkt noch Zeitzeugen geben. Der junge Mann sieht sich herausgefordert, der Sache auf den Grund zu gehen. Eine Recherche, die, wie sich noch zeigen soll, alles andere als einfach wird.
Mader liest sich intensiv in das Thema ein. Euthanasie bedeutet in etwa „schöner Tod“. Ein mehr als zynischer Begriff. Denn bei der Euthanasieaktion der Nazis wurden psychisch Kranke und Behinderte vergast, mit Medikamenten getötet, oder man hungerte sie mit einer Null-Fett-Diät binnen drei Monaten zu Tode. Das Ganze wurde quasi als gute Tat angesehen, weil man diese Menschen ja von ihrem Leid „erlöste“. Kaufbeuren und Irsee waren ein Zentrum der Euthanasie im Süden Bayerns.
Mader stellt schnell Folgendes fest: Über Schwaben liegt damals ein Mantel des Schweigens, was dieses Thema angeht. Ein Beispiel: Anlässlich des 800-jährigen Bestehens des Klosters Irsee im gleichen Jahr – 1982 – wird eine Festschrift publiziert. Mit einem Umfang von immerhin 350 Seiten. Und einem eigenen Kapitel über die Heil- und Pflegeanstalt Irsee, die von 1849 bis 1972 bestand. „Doch in dieser Festschrift wird mit keinem Wort die ,Aktion Gnadentod‘ erwähnt“, erzählt Mader. Eine Symptomatik, die sich damals in Schwaben immer wieder feststellen lassen wird.
Widerborstig zeigt man sich auch beim Landgericht Augsburg, das Mader die Einsicht in alte Akten zum Euthanasieprozess, der 1949 stattfand, zunächst einfach nicht gestattet. In diesem Prozess war der Anstaltsdirektor von Kaufbeuren und Irsee, Dr. Valentin Faltlhauser, wegen Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Nach wiederholtem Aufschieben der Vollstreckung der Gefängnisstrafe wegen Haftunfähigkeit erfolgte üb- rigens im Dezember 1954 die Begnadigung Faltlhausers durch den bayerischen Justizminister.
Erst als Mader sich noch ein Schreiben in der Redaktion des Bayerischen Rundfunks besorgt, wonach er eben ganz offiziell im Auftrag des Senders recherchiert, öffnen sich die Pforten ins Archiv des Gerichtes.
Mader wird auch im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren vorstellig. Dort hat erst zwei Jahre zuvor ein noch recht junger Ärztlicher Direktor das Ruder übernommen: Dr. Michael von Cranach. In diesem Fall gestaltet sich die Zusammenarbeit anders. „Er unterstützte mein Anliegen von der ersten Minute an“, sagt Mader. „Ich durfte alle Quellen und Jahresberichte einsehen, die ich wollte, das muss ich deutlich hervorheben.“
Parallel dazu macht sich Mader auch in den Ostallgäuer Dörfern auf Spurensuche. Er will Angehörige ausfindig machen, deren Verwandte in Kaufbeuren oder Irsee ermordet worden waren. Wie den Mann, dessen Mutter aus der Anstalt abtransportiert und vergast worden war. „Die Begegnung mit ihm war anrührend und zugleich verstörend.“Er hatte sein ganzes Leid in sich verschlossen, 41 Jahre lang, „bis ich ihn
Vor 75 Jahren ordnete das bayerische Innenministerium das Folgende für alle bayerischen Heil und Pflegean stalten an: „Im Hinblick auf die kriegsbedingten Ernährungsverhältnis se und auf den Gesundheitszustand der arbeitenden Anstaltsinsassen lässt es sich nicht länger verantworten, dass sämtliche Insassen der Heil und Pflegeanstalten unterschiedslos die nach dem Lebensweg der Mutter fragte“. In Kaufbeuren und Umgebung erinnern sich 1982 noch Menschen an folgende Begebenheiten: Eine Frau weigerte sich, ihr behindertes Kind nach Kaufbeuren zu schicken. Sie sagte: „Da bringen sie es um.“Schaurig der Bericht über einen Vater, der, erst als er erfuhr, dass dort behinderte Kinder getötet werden, sein Kind in die Kaufbeurer Anstalt ablieferte. „Offenbar wollte er es loswerden“, vermutet Mader. Wie er letztlich herausfindet, wurden 1200 bis 1600 Menschen in Kaufbeuren und Irsee ermordet – durch Verhungern und Medikamente. Dazu kommen noch knapp 700, die abtransportiert und woanders vergast wurden.
Es existierte zudem noch eine brisante Liste von Beschäftigten der Klinik, die verdächtig waren, Mithilfe beim Töten geleistet zu haben. Mader besorgt sich diese Liste – und klappert die Adressen ab. Eine Arbeit, die Mut erfordert. In einem Ostallgäuer Dorf klingelt er an einem Haus, eine etwa 70-jährige Frau kommt heraus und Mader stellt sein Ansinnen vor. „Ich weiß noch genau, wie es war. Es war ein schöner Tag, später Nachmittag. Die Frau erstarrt und blickt entsetzt. Betont kurz: ‚Dazu sage ich gleiche Verpflegung erhalten ohne Rücksicht darauf, ob sie einerseits produktive Arbeit leisten oder in Thera pie stehen oder ob sie andererseits lediglich zur Pflege in den Anstalten un tergebracht sind, ohne eine nennens werte nutzbringende Arbeit zu leisten. Es wird daher angeordnet, dass mit sofortiger Wirkung sowohl in quantitati ver wie in qualitativer Hinsicht dieje nichts‘. Dreht sich um und schließt einfach die Tür.“Eine andere Frau, ebenfalls um die 70, beendet das Gespräch mit den Worten: „Ach, da wird man doch nur durch den Dreck gezogen.“
Ein Einziger, der auf der Mithelferliste verzeichnet ist, lässt ein kurzes Gespräch zu. Er sagt: „Natürlich sah man, dass das Krematorium auf dem Kaufbeurer Anstaltsgelände fast nicht mehr stillstand. Dass man den einen oder jenen auf Entzugskost setzte.“Damit er verhungerte. Die vom damaligen Anstaltsdirektor Valentin Faltlhauser entwickelte Null-Fett-Diät führte binnen kurzer Zeit zu Hungerödemen, und die Betroffenen starben daran. „Wir wollten es aber alles nicht genauer wissen“, erinnert sich der Zeitzeuge. „Man wollte einfach nur zur Arbeit gehen.“
Mader fasst seine Kenntnisse zusammen. Sie werden im November 1982 in einer einstündigen Sendung im Bayerischen Rundfunk präsentiert. Fast zur gleichen Zeit erscheint sein kleines Büchlein „Das erzwungene Sterben“, das im Gefolge insgesamt fünfmal aufgelegt wird. Bei der Buchvorstellung in der katholischen Kaufbeurer Pfarrei St. Peter und Paul am 20. November ist der Saal überfüllt, berichtet Mader. nigen Insassen der Heil und Pflegean stalten, die nutzbringende Arbeit leisten oder in therapeutischer Behand lung stehen, ferner die noch bil dungsfähigen Kinder, die Kriegsgeschä digten und die an Alterspsychose Lei denden zulasten der übrigen Insassen besser verpflegt werden.“
Grundlage für diesen sogenannten Hungerkost Erlass ist eine Diät, die Unsere Zeitung vermeldet damals: „Wirkliches Grauen machte sich auch bei den vielen, meist jugendlichen Zuhörern breit, was sich am Ende dieses Vortragsabends von Ernst T. Mader, Blöcktach, in betretenem Schweigen zeigte.“
Mader erinnert sich, dass die Stimmung Anfang der 1980er Jahre völlig anders ist als heute. „Es gab einen großen Generationenunterschied. Die Jungen, die wissen wollten, was während der Nazizeit passiert war. Und die Älteren, von denen die meisten nichts hören wollten.“
Maders Rechercheergebnisse sorgen jedenfalls für erhebliche Furore. Immer mehr Medien berichten darüber. Doch das Echo ist für den jungen Lehrer nicht immer angenehm. „Auf der Straße wurde ich aus dem Nichts heraus von einem Bierfahrer der Brauerei Irsee, selbst ein Irseer, beschimpft, warum ich denn sein Dorf so in den Dreck ziehen würde.“Ein Kaufbeurer Buchhändler berichtet ihm, dass er anonyme Drohungen erhalten habe. Er soll „diesen Dreck nicht ins Sortiment nehmen“. Das Ganze gipfelt dann in einem Ereignis, das sich knapp ein Jahr später, im September 1983 abspielt: Mader will auf der Kaufbeurer Kleinkunstbühne Podium (sie existiert heute noch) sein nächstes Buch „Braune Flecken auf der schwarzen Seele“vorstellen, das den Alltag im Nationalsozialismus in einem Allgäuer Dorf skizziert. „Dann gab es eine Bombendrohung“, erinnert sich Mader. „Die Polizei untersuchte das Podium, fand aber nichts.“Die Buchpräsentation findet dann trotz der Drohung statt.
Monate vorher, im Januar 1983, hat Mader zudem Post von offizieller Stelle erhalten. Absender: der damalige Bezirkstagspräsident Georg Simnacher (1932 – 2014). Diesem sei es darum gegangen, jedwede Verbindung des Bezirks mit der Vernichtungsaktion zurückzuweisen, sagt Mader. Als Faltlhauser etwa 1944 den Bau des Krematoriums auf dem Gelände der Kaufbeurer Anstalt fordert, damit nicht „wertvoller, für die menschliche Ernährung wichtiger schwäbischer Boden“für einen Friedhof geopfert werden müsse, stimmte der Bezirksverband dem Ansinnen des Chefarztes zu. Das ist laut Mader im Jahresbericht 1944 nachzulesen.
Simnacher schreibt in dem Brief an den Autor, dass der Bezirksverband gar nicht zuständig war, weil laut Führererlass die Selbstverwaltung außer Kraft gesetzt gewesen sei. „Aber der Bezirksverband hat sich nachweislich mit dem Thema befasst – und das ausdrücklich zustimmend.“Des Weiteren habe Simnacher in seinem Brief gesagt, dass nicht klar sei, aus welchen Dokumenten Mader die Anzahl der Getöteten ableitet. „Aber diese Quellen habe ich definitiv benannt“, sagt Mader.
Simnacher habe auch öffentlich stets den Hausgeistlichen der Anstalten Kaufbeuren-Irsee, Kurat Christian Frank, verteidigt. Dieser sei an den Maßnahmen der Nazis
Das Töten wurde quasi als gute Tat gesehen Wie es vor 75 Jahren zum Hungerkost Erlass des bayerischen Innenministeriums kam Der Hausgeistliche war ein strammer Nationalsozialist
„seelisch zerbrochen“, habe Simnacher betont. Dagegen sprechen aber alle anderen Erkenntnisse. Ordensschwestern erlebten Kurat Frank (1867–1942) in Irsee als strammen Nationalsozialisten. Das legt Mader schon 1982 offen. Das präzisiert die Historikerin Martina Steber dann im Jahr 2010. Und aus dem gleichen Grunde beschließt der Kaufbeurer Stadtrat 2015, seine Kurat-FrankStraße (sie hieß bis 1945 übrigens Hermann-Göring-Straße) in HeiligKreuz-Straße umzubenennen.
„Damals sollte vieles einfach unter den Teppich gekehrt werden“, meint Mader. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus polarisierte große Teile der Gesellschaft. Doch wie ist es heute? „Es hat sich erheblich gewandelt“, sagt Mader. Was heute auch in Kaufbeuren und Irsee gut sichtbar ist. So gibt es etwa auf dem Gelände des Kaufbeurer Bezirkskrankenhauses einen großen Gedenkstein, der auf das Töten hinweist. Die Schüler der Krankenpflegeschule richten jährlich die dazugehörige Mahnfeier aus.
Ein anderes Beispiel: Der Autor Robert Domes, früher Leiter unserer Kaufbeurer Lokalredaktion, hat die Geschichte des 1944 in Irsee ermordeten Buben Ernst Lossa (er galt als schwer erziehbar) in seinem Buch „Nebel im August“beschrieben, das dann mit Sebastian Koch verfilmt wurde. Produzent war übrigens Ulrich Limmer, der unter anderem auch mit „Schtonk!“bekannt wurde. Der Kaufbeurer Stadtrat hat zudem eine Straße nach Ernst Lossa benannt.
Das alles findet Mader gut und richtig. Er sagt aber auch: „Publikationen, die Nazi-Verbrechen behandeln, regen niemanden mehr auf.“Veröffentlichungen lösten keine Debatten mehr aus. „Es gibt nur noch routinierte Zustimmung oder Gleichgültigkeit. Das heißt aber auch: Sie bewegen nichts mehr. Das Erinnern an diese Phase der Geschichte ist mittlerweile politischgesellschaftlicher Standard, der nichts mehr kostet.“