Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (24)
INur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
ch stand auf und ging mit ihr bis zum Rand des nördlichen Sportplatzes, dann auf den Hügel hinter dem Haus, und als wir oben vor dem Holzzaun standen, blickten wir hinab auf die weite Fläche Grün, die mit kleinen Grüppchen von Kollegiaten gesprenkelt war. Auf dem Hügel wehte ein starker Wind, und ich weiß noch, wie mich das überraschte, denn unten im Gras hatte ich von einem Wind nichts bemerkt. Eine Weile standen wir da und blickten über das Gelände, dann reichte sie mir eine kleine Tüte. Als ich sie entgegennahm, spürte ich sofort, dass eine Kassette darin war, und mein Herz machte einen Satz, aber Ruth sagte:
„Kathy, es ist nicht deine. Nicht die verlorene. Ich habe versucht, sie für dich zu finden, aber sie ist wirklich verschwunden.“
„Ja“, sagte ich. „Längst in Norfolk.“
Wir lachten beide. Dann zog ich enttäuscht die Kassette aus der Tüte, aber ich glaube nicht, dass mir
die Enttäuschung noch im Gesicht stand, als ich sie genauer betrachtete. Ich hielt eine Kassette mit der Aufschrift Zwanzig klassische Tanzmusiken in der Hand. Später hörte ich sie, und es war Orchestermusik für Gesellschaftstänze. Damals konnte ich natürlich noch nicht wissen, was für eine Art Musik das war, aber dass sie keinerlei Ähnlichkeit mit Judy Bridgewater hatte, war mir schon klar. Doch fast im selben Moment begriff ich, dass Ruth das ja gar nicht wissen konnte – dass für Ruth, die von Musik nicht die leiseste Ahnung hatte, diese Kassette ohne weiteres ein Ersatz für die verlorene sein konnte. Und ich spürte, wie die Enttäuschung jäh einer jubelnden Freude Platz machte. Umarmungen oder so was kamen in Hailsham eigentlich kaum vor. Aber ich nahm ihre Hand, drückte sie ganz fest und dankte Ruth. Sie sagte: „Die habe ich auf dem letzten Basar gefunden. Ich dachte nur, das müsste ungefähr das sein, was dir gefällt.“Und ich sagte, ja, genau das. Die Kassette habe ich immer noch. Ich höre sie nicht oft, denn es geht ja gar nicht um die Musik. Diese Kassette ist ein Gegenstand wie eine Brosche oder ein Ring, und vor allem jetzt, seitdem Ruth nicht mehr da ist, ist sie eines meiner wertvollsten Besitztümer geworden.
Kapitel 7
Ich möchte jetzt zu unseren letzten Jahren in Hailsham kommen. Damit meine ich die Zeit von unserem dreizehnten bis zu unserem sechzehnten Lebensjahr, kurz bevor wir fortgingen. In meiner Erinnerung zerfällt Hailsham in zwei deutlich voneinander getrennte Blöcke: diese letzte Ära und alles, was vorher stattgefunden hatte. Die frühen Jahre, von denen ich Ihnen bis jetzt erzählt habe, scheinen ineinander zu verschwimmen zu einer Art goldenem Zeitalter, und wenn ich überhaupt an sie denke, auch an die Erlebnisse, die nicht so schön waren, empfinde ich immer so etwas wie ein Leuchten. Aber die letzten Jahre sind mir anders im Gedächtnis geblieben.
Sie waren nicht eigentlich unglücklich – sehr viele Erinnerungen an diese Zeit sind mir lieb und teuer –, wohl aber ernster und in mancher Hinsicht düsterer. Vielleicht habe ich sie schlimmer in Erinnerung, als sie tatsächlich verlaufen sind, aber mir ist der Eindruck geblieben, dass sich in dieser Zeit alles sehr schnell verändert hat, so wie der Tag in die Nacht übergeht.
Dieses Gespräch mit Tommy am Teich: Im Rückblick kommt es mir vor wie ein Grenzstein zwischen der ersten und der zweiten Ära. Nicht, dass gleich danach etwas Einschneidendes eingetreten wäre; aber für mich wenigstens war das Gespräch ein Wendepunkt. Von da an begann ich alles mit anderen Augen zu sehen, so viel steht fest. Während ich früher peinliche oder unangenehme Themen um jeden Preis vermieden hatte, begann ich jetzt immer öfter Fragen zu stellen, wenn nicht laut, so zumindest für mich.
Vor allem brachte mich unser Gespräch dazu, Miss Lucy in einem anderen Licht zu sehen. Ich beobachtete sie aufmerksam, wann immer es ging, nicht nur aus Neugier, sondern weil ich glaubte, dass ihr Verhalten am ehesten Aufschluss über Hailsham bieten könnte. Und so war es; während der nächsten ein, zwei Jahre fielen mir verschiedene merkwürdige kleine Bemerkungen oder Verhaltensweisen an ihr auf, die meinen Freundinnen vollständig entgingen.
Einmal zum Beispiel, vielleicht ein paar Wochen nach dem Gespräch am Teich, unterrichtete Miss Lucy uns in Englisch. Wir hatten Gedichte durchgenommen, waren aber irgendwie auf die Kriegsgefangenenlager im Zweiten Weltkrieg zu sprechen gekommen. Einer der Jungen fragte, ob die Zäune rings um die Lager unter Strom gestanden hätten, und ein anderer sagte, wie sonderbar das gewesen sein müsse, an einem Ort zu leben, wo man jederzeit Selbstmord begehen konnte, einfach indem man einen Zaun anfasste. Die Bemerkung war vermutlich ganz ernst gemeint, aber der Rest der Klasse fand sie unheimlich komisch.
Auf einmal lachten und redeten alle durcheinander, und Laura – typisch für sie – stellte sich auf ihren Stuhl und führte in einer hysterischen Pantomime vor, wie jemand die Hand ausstreckt und am elektrischen Schlag stirbt. Für einen kurzen Moment herrschte Chaos, alle schrien und mimten den Tod am elektrischen Zaun.
Da ich die ganze Zeit Miss Lucy nicht aus den Augen ließ, sah ich, nur sekundenlang, einen geisterhaften Ausdruck über ihr Gesicht huschen, während sie das Treiben der Schüler verfolgte. Dann riss sie sich zusammen, lächelte und sagte: „Zum Glück sind die Zäune in Hailsham nicht unter Strom. Manchmal erlebt man schreckliche Unfälle.“Sie sagte das ziemlich leise, und weil die anderen immer noch krakeelten, ging ihre Bemerkung weitgehend unter. Aber ich hatte sie deutlich genug vernommen.
Manchmal erlebt man schreckliche Unfälle. Was für Unfälle? Wo? Aber niemand ging darauf ein, und wir kehrten wieder zur Gedichtinterpretation zurück.
Weitere kleine Zwischenfälle dieser Art folgten, und ich hatte bald das Gefühl, dass Miss Lucy anders war als die übrigen Aufseher. Es ist sogar möglich, dass ich schon damals zu erkennen begann, welcher Art ihre Ängste und Frustrationen waren. Aber das geht vielleicht zu weit; wahrscheinlich ist, dass mir das alles zwar auffiel, ich aber nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich damit anfangen sollte. Und wenn mir diese Zwischenfälle im Nachhinein äußerst viel sagend scheinen, jeder ein kleiner Teil eines großen Ganzen, so liegt das sicher daran, dass ich sie im Licht der späteren Ereignisse betrachte – und vor allem im Licht jenes Nachmittags auf der Veranda des Pavillons, wo wir uns einmal vor einem Wolkenbruch unterstellten. Inzwischen waren wir fünfzehn, und unser letztes Jahr in Hailsham war angebrochen. Wir waren im Pavillon und bereiteten uns auf ein Rounders-Match vor. »25. Fortsetzung folgt