Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (27)
WNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
ir waren beim Mittagessen, so dass sich natürlich alle um ihn scharten und „Iiiih!“kreischten. Dann sagte Christopher H., der ein Jahr über uns war, mit todernster Miene: „Dumm, dass es ausgerechnet an diesem Stück Ellenbogen ist. Überall sonst wär es egal.“
Tommy sah ihn beunruhigt an – Christopher war einer, zu dem damals alle aufblickten – und fragte, was das heißen solle. Christopher sagte lässig, während er weiteraß:
„Weißt du das nicht? Wenn es direkt am Gelenk ist, so wie bei dir, kann es platzen. Es reicht, wenn du mal schnell den Arm anwinkelst. Und es kann nicht nur die Wunde aufplatzen, sondern der ganze Ellenbogen – wie einen klaffenden Reißverschluss musst du dir das vorstellen. Ich hätte gedacht, das weißt du.“
Krähengesicht habe ihn nicht gewarnt, dass so etwas passieren könne, hörte ich Tommy einwenden, aber Christopher zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Sie ist natürlich
davon ausgegangen, dass du das weißt. Alle hier wissen es doch.“
Ringsum zustimmendes Gemurmel. „Du musst deinen Arm absolut gerade halten“, sagte einer. „Jede Krümmung ist supergefährlich. Denk an den Reißverschluss.“
Am nächsten Tag sah ich Tommy mit steif ausgestrecktem Arm und äußerst besorgter Miene herumgehen. Alle lachten über ihn, was ich ihnen übel nahm, obwohl ich zugeben muss, dass er einen komischen Anblick bot. Am späten Nachmittag, als wir aus dem Zeichensaal kamen, trat er auf mich zu und fragte: „Kath, hast du eine Minute für mich?“Das war vielleicht ein paar Wochen nach dem Vorfall auf dem Sportplatz, als ich auf ihn zugegangen und ihn an sein neues Polohemd erinnert hatte, und seither hatte sich die Ansicht durchgesetzt, wir seien irgendwie besonders miteinander befreundet. Dennoch war es mir peinlich, dass er einfach auf mich zukam und um ein Gespräch unter vier Augen bat; es brachte mich aus dem Gleichgewicht. Was vielleicht erklärt – jedenfalls teilweise –, weshalb ich nicht so loyal war, wie ich hätte sein können.
„Es ist nicht so, dass ich jetzt groß Angst hätte oder so“, fing er an, nachdem er mich beiseite genommen hatte. „Ich wollte nur auf Nummer Sicher gehen, weiter nichts. Wir sollen unsere Gesundheit schließlich nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Ich brauch jemanden, der mir hilft, Kath.“Was nachts im Bett passieren könne, mache ihm Sorgen, erklärte er. Schließlich könne er jederzeit im Schlaf den Ellenbogen anwinkeln. „Zur Zeit träume ich ständig, dass ich gegen Horden von römischen Soldaten kämpfe.“
Als ich ihn ein bisschen aushorchte, kam heraus, dass alle möglichen Leute – Leute, die bei besagtem Mittagessen gar nicht dabei gewesen waren – auf ihn zugegangen und Christopher H.s Warnung bekräftigt hatten. Mehr noch, ein paar hatten den Scherz anscheinend auf die Spitze getrieben und Tommy von einem früheren Kollegiaten erzählt, der mit einer ganz ähnlichen Wunde am Ellenbogen schlafen gegangen war, und als er erwachte, lagen am gesamten Oberarm und an der Hand die Knochen blank, und die Haut hing in flatternden Fetzen herab, „wie einer dieser langen Handschuhe aus My Fair Lady“. Aus diesem Grund sollte ich Tommy helfen, den Arm zu schienen, damit dieser nachts gerade blieb.
„Den anderen traue ich nicht“, sagte er, ein dickes starkes Holzlineal in der Hand, das er als Schiene benutzen wollte. „Womöglich machen sie es absichtlich so, dass es sich in der Nacht löst.“
Er sah mich so arglos und treuherzig an, dass ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Ein Teil von mir wollte ihn unbedingt aufklären, und wahrscheinlich war mir bewusst, dass jedes andere Verhalten ein Verrat an dem gegenseitigen Vertrauen war, das wir seit dem Vorfall mit dem Polohemd aufgebaut hatten. Und wenn ich ihm jetzt den Arm schiente, trug ich zu dem Scherz auf seine Kosten nicht wenig bei. Es beschämt mich noch heute, dass ich damals nichts sagte. Aber halten Sie mir bitte zugute, dass ich noch ziemlich jung war und nur wenige Sekunden Zeit hatte, um mich zu entscheiden. Und wenn man so flehentlich um etwas gebeten wird, sträubt sich alles in einem dagegen, Nein zu sagen.
In erster Linie, glaube ich, ging es mir darum, ihn nicht aufzuregen. Denn ich sah ja, dass Tommy trotz der Angst um seinen Ellenbogen richtig gerührt war, wie viel Fürsorglichkeit ihm – vermeintlich – von allen Seiten zuteil wurde. Natürlich war mir klar, dass er die Wahrheit früher oder später herausfinden würde, aber in dem Augenblick konnte ich nichts sagen. Das Einzige, was mir einfiel, war die Frage:
„Hat Krähengesicht dir befohlen, den Arm zu schienen?“
„Nein. Aber stell dir vor, wie sauer sie wäre, wenn der Knochen rausspringt.“Es ist mir heute noch peinlich, aber ich versprach ihm, seinen Arm zu schienen – in Zimmer 14, eine halbe Stunde vor dem Nachtläuten – und er entfernte sich dankbar und beruhigt. Wie es der Zufall wollte, brauchte ich mein Versprechen nicht einzulösen, denn bevor es so weit war, kam Tommy von selbst dahinter. Es war gegen acht Uhr abends, ich ging gerade die Haupttreppe herunter und hörte aus dem Erdgeschoss ein vielstimmiges Gelächter aufbranden und durchs Treppenhaus schallen. Mir sank das Herz, denn ich wusste sofort, dass es um Tommy ging. Ich blieb auf dem Treppenabsatz im ersten Stock stehen, und als ich mich über das Geländer beugte, sah ich Tommy wütend aus dem Billardzimmer stapfen. Ich weiß noch, dass ich dachte: Wenigstens brüllt er nicht. Und tatsächlich gab er keinen Laut von sich, während er zur Garderobe hinüberging, seine Sachen holte und das Haupthaus verließ. Immer noch drang Gelächter aus der offenen Tür des Billardzimmers, und einzelne Stimmen riefen ihm gute Tipps nach wie: „Wenn du ausrastest, wird dein Ellenbogen auf jeden Fall rausspringen!“Ich überlegte, ob ich ihm nachlaufen sollte, um ihn noch einzuholen, bevor er in seinem Schlafbungalow verschwand, aber dann fiel mir ein, dass ich ihm ja versprochen hatte, den Arm für die Nacht zu schienen, und ich rührte mich nicht vom Fleck. Stattdessen sagte ich mir immer wieder: Wenigstens bekommt er keinen Wutanfall. Wenigstens hat er sich im Griff. Aber ich bin ein bisschen abgeschweift. Das alles erzähle ich nur deshalb, weil sich die Idee mit dem „Reißverschluss“, die mit Tommys Ellenbogen angefangen hatte, zu einem stehenden Witz über die Spenden weiterentwickelte. Die Idee war, dass wir, wenn es schließlich so weit war, einfach ein Stück Reißverschluss aufziehen, eine Niere oder irgendwas anderes herausnehmen und übergeben könnten. Das war an sich nicht so witzig; es ging uns eher darum, uns auf diese Weise gegenseitig vom Essen abzuhalten – man öffnete den Reißverschluss, nahm beispielsweise die Leber heraus und ließ sie jemandem auf den Teller plumpsen, so was in der Art. »28. Fortsetzung folgt