Wer klagt, braucht Geduld und Geld
Pfusch im Gesundheitsbereich kann Folgekosten von mehreren hunderttausend Euro auslösen. Die Krankenkassen helfen den Patienten dabei, zu ihrem Recht zu kommen. Aber für sie geht es noch um mehr
München/Augsburg Die in der OPWunde vergessene Schere, deutlich zu sehen auf dem Röntgenbild – ein (Illustrations-)Klassiker und die Horrorvorstellung eines jeden, der sich in die Obhut eines Chirurgen begibt. Es muss nicht immer ein so spektakuläres Dokument sein, das symbolhaft für vielerlei ärztliche oder pflegerische Fehler hergenommen wird. Bis zu 170000 Behandlungsfehler passieren jedes Jahr in Deutschland, schätzt das Gesundheitsministerium, nur ein Bruchteil davon wird angezeigt und untersucht. Und auch davon stellt sich nach einem oft langwierigen Verfahren nicht jeder Fall tatsächlich als nachweisbarer Fehler heraus.
Eine Garantie der vollkommenen Gesundung kann kein Arzt, kein Krankenhaus geben. Was sie aber garantieren müssen: Eine Versorgung des Patienten, die dem allgemeingültigen Stand der Wissenschaft entspricht. Falls nicht – und es passiert etwas mit gravierenden Folgen für den Kranken – kann es teuer werden. Und auch nicht erst dann, wenn ein Patient beklagt, Opfer eines möglichen Behandlungsfehlers geworden zu sein.
Ein bundeseinheitliches Zentralregister, in dem alle Fehler dokumentiert werden, gibt es nicht. Deshalb schwanken die veröffentlichten Zahlen. Die Krankenkassen haben ihre eigenen, auch die Ärztekammern und die Gerichte. „Das macht keinen Sinn“, sagt Dominik Schirmer, der bei der AOK Bayern den Verbraucherschutz verantwortet. Das müsse geändert werden.
Und er weitet die Forderung nach einem Register gleich auf den großen Bereich der Medizinprodukte aus. Wenn es bei Autos einen Rückruf wegen eines Bauteils gibt, wisse das Kraftfahrtbundesamt genau, wer mit einem betroffenen Fahrzeug unterwegs ist. Wenn schadhafte Herzschrittmacher, Hüftprothesen oder beispielsweise Brustimplantate – der Fall eines kriminellen französischen Herstellers ist noch in bester Erinnerung – implantiert wurden, könne nicht auf Anhieb gesagt werden, wer sie in seinem Körper trägt. Dominik Schirmer spricht in diesem Zusammenhang wiederholt von einer „grottenschlechten Rechtslage“. Auch weil die Zulassung der Produkte zu lax gehandhabt werden könne.
Die AOK Bayern hat schon im Jahr 2000 ein eigenes Behandlungsund Pflegefehlermanagement eingerichtet. 18 speziell geschulte Beraterinnen und Berater versuchen auf der einen Seite, die betroffenen Patientinnen und Patienten bei der Klärung des Sachverhalts zu unterstützen. Zum anderen geht es ihnen in Zusammenarbeit mit den hauseigenen Juristen auch darum, der AOK zu ihrem Recht zu verhelfen, wenn es um die Erstattung von Fol- eines Behandlungsfehlers geht. Hier ist schnell mal von Beträgen die Rede, die in die Millionen gehen können, sagt Dominik Schirmer.
Es gibt im Prinzip zwei Wege, wie die Krankenkasse möglichen Fehlern in Kliniken und Praxen auf die Spur kommt. Ganz klassisch: Ein Patient oder dessen Angehörige haben den Verdacht, dass etwas nicht richtig gelaufen ist. Dann können sie sich an die Krankenkasse wenden und erhalten etwa im Falle der AOK sofort Kontakt zu einem der 18 Experten, die in Ingolstadt (für Südbayern) und Bamberg (für Nordbayern) stationiert sind.
Die AOK Bayern, mit aktuell 4,5 Millionen Versicherten Marktführer im Freistaat, hat darüber hinaus ein eigenes System eingeführt, um vermuteten Fehlern auf die Spur zu kommen. Anhand von Computerdaten kann zum Beispiel festgestellt werden, ob Patienten während eines stationären Aufenthalts ein besonders schweres Druckgeschwür (offen bis auf die Knochen) erlitten haben. Das, so Schirmer, sei immer auf Behandlungsfehler zurückzuführen. Jährlich verzeichne allein die AOK Bayern 1200 derartiger Fälle. Ein zweiter Bereich ist die Prüfung stationärer Krankenhausabrechnungen. Hier wurden im Jahr 2016 insgesamt 46 Behandlungsfehler (2015: 74) aufgedeckt.
Und schließlich filtert die Krankenkasse aus ihrem Datenbestand Kinder heraus, die bereits eine Pflegeeinstufung oder bestimmte Diagnosen bekommen haben, was unter Umständen auf einen Behandlungsfehler kurz vor, während oder kurz nach der Geburt hindeuten könnte. Die AOK-Taskforce hat nach Angaben Schirmers im Laufe der Jahre bereits 33 derartige Fälle entdeckt und dadurch 7,8 Millionen Euro Regress erwirken können.
Die Krankenkasse hat einen großen Apparat, der auch mit Juristen besetzt ist. Was macht der einfache Versicherte, der womöglich Anspruch auf Schmerzensgeld oder Schadenersatz erheben könnte? Er muss sie auf dem zivilrechtlichen Weg durchsetzen, wobei ihm die Kasse auf den ersten Etappen ein wichtiger Begleiter sein will. Im Fall der AOK fühlen sich die Patientenberater nicht nur als Lotsen in dem Verfahren, sondern sorgen auch dafür, dass zunächst einmal die notwendigen Unterlagen zur Beurteigekosten lung des Sachverhalts zur Verfügung stehen, erzählt AOK-Beraterin Isabel Eberth. Allein dies könne teilweise zwischen sechs und neun Monate dauern. Wenn sich die Anzeichen für einen Behandlungsfehler erhärten, erstellt der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) ein – für den Versicherten kostenloses – Gutachten. Die Berater bleiben weiter mit am Ball, prüfen das Gutachten auf Vollständigkeit, Verständlichkeit und Plausibilität. Expertin Isabel Eberth: „Wir übersetzen es in die Sprache des Versicherten.“
Wenn tatsächlich ein Fehler diagnostiziert wird, liegt es nach eingehender Beratung am Betroffenen selbst oder an dessen Angehörigen zu entscheiden, ob Ansprüche geltend gemacht werden oder nicht. Die Erfahrung zeigt, dass es ihnen oftmals schon reicht, einen Fehler bestätigt bekommen zu haben, um mit der schlimmen Sache besser abschließen zu können. Schadenersatz oder Schmerzensgeld sind dann zweitrangig. Wer sie jedoch durchfechten will, braucht nun einen Anwalt, möglichst einen Spezialisten für Medizinrecht. Dazu Geduld und eine Rechtsschutzversicherung. Denn ein solches Verfahren mit Gutachten und Gegengutachten kann lange dauern und teuer werden, insbesondere dann, wenn mehrere Gerichtsinstanzen bemüht werden.
Auch für Behandlungsfehler und deren juristische Verfolgung gilt im Übrigen eine Verjährungsfrist von drei Jahren. Sie beginnt am Ende eines Jahres, in dem der Betroffene von dem folgenreichen Fehler erfahren hat oder ihn hätte erkennen können.
Ein bundesweites Register gibt es nicht Es gilt eine Verjährungsfrist von drei Jahren