Eine letzte Warnung für Europas Politiker
In Italien hat jeder zweite Bürger für populistische, nationalistische Parteien gestimmt. Ist diese Botschaft in Brüssel, Berlin und Paris angekommen?
Nein, es ist noch nicht vorbei. Und womöglich hat die über Europa hereingebrochene populistische Welle ihre ganze Wucht noch gar nicht entfaltet. Wer geglaubt hatte, mit dem Sieg Macrons über Frankreichs Rechtsradikale sei der Vormarsch antieuropäischer, nationalistischer, fremdenfeindlicher Bewegungen gestoppt, ist purem Wunschdenken aufgesessen. In vielen Ländern Europas erstarken jene Kräfte, die Abschottung predigen, gegen das demokratische System und das „Establishment“wettern und das Einigungswerk rückabwickeln wollen. In ganz Europa erodiert das von Volksparteien getragene Parteiensystem; in Frankreich ist es schon kollabiert. Die auf Ausgleich, Augenmaß und Kompromissfähigkeit geeichte politische Mitte hat an Boden verloren, der Ruf der Demokratie weiter gelitten. Wenn es noch eines Beweises für die anhaltende Zugkraft populistischer Rezepte bedurft hätte, so hat ihn die Wahl in Italien erbracht.
Im drittgrößten EU-Land hat die Hälfte der Bürger für antieuropäische, mit der Parole „Italien zuerst“operierende Parteien gestimmt. Natürlich hat das Ausmaß dieses Erdbebens mit den speziellen „italienischen Verhältnissen“zu tun, dem Versagen der Eliten, der Reformunfähigkeit, der sozialen Not, dem bankrottreifen Staat. Ein gut situiertes Land wie Deutschland, wo die Politiker noch einigen Kredit genießen, ist ungleich besser gefeit vor radikalen Umbrüchen. Aber Italien lehrt, wie latenter Unmut über einen handlungsunfähigen Staat und eine abgehobene politische Klasse in eine Revolte gegen das „System“als Ganzes umschlagen kann. Europas verantwortliche Politiker sollten diese Protestwahl als letzte Warnung dafür begreifen, dass tatsächlich Gefahr im Verzug ist für die liberale, weltoffene Demokratie und die Zukunft der EU. Die weit überwiegende Mehrheit der Europäer schätzt das Leben in einer freiheitlichen Gesellschaft und fühlt europäisch. Der Zuspruch zur EU bröckelt und das Vertrauen in die Demokratie sinkt, weil die europäische Politik keine schlüssigen Antworten findet auf die großen Herausforderungen der Zeit und die damit verbundene Verunsicherung der Menschen. Die Bankenund Eurokrise sowie die Flüchtlingskrise haben das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der in Nord und Süd, Ost und West gespaltenen EU schwer erschüttert und – siehe die AfD – den populistischen Vereinfachern Auftrieb verschafft. Solange die Währung nicht gesichert, die Schuldenkrise nicht im Griff und die Massenzuwanderung nicht unter Kontrolle ist, finden die Populisten bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein Gehör. Die EU muss zeigen, dass sie Probleme lösen kann und eine vernünftige Arbeitsteilung mit dem unverwüstlichen Nationalstaat will. Nur so lässt sich der Nährboden von Anti-SystemParteien austrocknen.
Haben die Europäer in Brüssel, Paris und Berlin verstanden, was auf dem Spiel steht? Oder hängen sie unbeirrt dem schönen, nur leider mit den Realitäten kollidierenden Traum von einer „immer tieferen“Union nach? Die überfällige Reformdebatte wird eine Antwort liefern. Ja, wir brauchen „mehr Europa“– aber nicht in Form von noch mehr Umverteilung, noch mehr Schulden, noch mehr Zentralismus, noch mehr Macht für das bürgerferne Brüssel. „Mehr Europa“wird gebraucht bei der langen Liste jener Aufgaben, die nur mit vereinten Kräften zu stemmen sind. Sie reicht von einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Asylpolitik über den Schutz der Außengrenzen bis hin zu gezielten Investitionen in Zukunftsbranchen und Wettbewerbsfähigkeit. Das ist es, was die EU im Kampf um ihr Überleben und zur Abwehr des Populismus schnell leisten kann.
Es gibt nur ein Gegenmittel: Probleme lösen