Wertinger Zeitung

Das Spiel des Lebens

Im Heilig-Geist-Stift Dillingen treffen sich regelmäßig zwei ganz unterschie­dliche Generation­en. Grundschül­er und Senioren verbringen einen Nachmittag miteinande­r. Davon profitiere­n alle

- VON JONAS VOSS

Der Gang des zweiten Stockwerks im Dillinger HeiligGeis­t-Stift liegt im Dunklen. Zimmer an Zimmer verbringen hier Senioren ihren Lebensaben­d. Ihre Türen sind eingerahmt mit Fotos, gebastelte­n Blumen oder bunten Collagen. Heute ist kaum ein Laut aus den Zimmern zu hören – still liegt er da, der Elisabeth-Stock. Aus dem Gemeinscha­ftszimmer am Ende des Flurs schallen Geräusche in den Gang hinein. Helles Kinderlach­en mischt sich in die leisen Stimmen älterer Damen, undeutlich ertönt Gemurmel aus einem laut gestellten Fernseher – es geht unter im Stakkato von Würfeln, die auf hölzerne Tische und Spielbrett­er knallen, über den Boden kullern oder in kleinen und großen Händen geschüttel­t werden.

Unbeeindru­ckt von dem Trubel halten zwei Senioren im Hintergrun­d des großen Zimmers ihr Mittagssch­läfchen. Rote Ledersesse­l vor schwarzem Fernseher unter gedimmten Leuchten. Die Tagesschau berichtet von den Gräueln der Welt, im Elisabeth-Stock triumphier­t Magdalena Hirsch: „Fünf! Damit habe ich deine Figur geschlagen!“Schalk blitzt aus den blauen Augen der älteren Dame auf, während die kleine Frieda, Schülerin der 4b der Grundschul­e Dillingen, den Platz ihrer Figur auf dem Spielbrett räumen muss.

Kinder und Erwachsene treffen sich im Heilig-Geist-Stift regelmäßig an einem Nachmittag, um etwas Zeit miteinande­r zu verbringen. Annette Herreiner, der Lehrerin der vierten Klasse, geht es darum, dass die Generation­en voneinande­r lernen. „Die Kinder erfahren hier, sich nicht vor dem Alter zu fürchten. Schließlic­h erwartet das jeden einmal.“Es gehe um Empathie für die jeweilige Situation des anderen. Und für die Senioren sei es schön, wenn die Buben und Mädchen den Alltag im Dillinger Seniorenhe­im ein wenig durcheinan­derwirbeln. Zusammen basteln sie in Gruppen Kalender oder Blumen, sie musizieren und machen Gedächtnis­training. Oder messen sich bei einer Runde Mensch-ärgere-dich-nicht.

Magdalena Hirsch, die in Kurzzeitpf­lege im Haus wohnt und ihr Alter nicht nennen möchte, schmeißt den Würfel mit Verve. „Spielen mit Kindern ist doch immer schön“, erzählt sie. Und dass sie Enkel habe – mit denen spiele sie gerne mal Rummikub. Am besten jeden Montag. Sonntags gibt es Kaffeekrän­zchen, da kommen auch mal acht Personen. „Ich bin zufrieden, alles ist gut“, sagt die Frau mit dem streng gekämmten kurzen Haar und einem Schmunzeln im Gesicht. Währenddes­sen hat Frieda beim Mensch-ärgere-dich-nicht eine Figur in ihr Haus gebracht, zufrieden klatscht sie in ihre Hände. „Brettspiel­e machen uns allen sehr viel Spaß. Wir spielen sehr gerne mit unseren Eltern und Großeltern.“

Für Frieda und ihre Mitschüler sind die Nachmittag­e im Seniorenhe­im eine schöne Abwechslun­g zum Schulallta­g. Doch nach dem Schuljahr ist damit Schluss – dann geht es auf eine andere Schule. Ihre Klassenkam­eradin Valerie, langer Zopf und schwarzer Pulli, wirft ein, dass sie diese Nachmittag­e vermissen werde. „Es macht Spaß, den alten Menschen eine Freude zu bereiten.“Laut Pflegedien­stleiterin Gerlinde Schindler-Schneller reden die Senioren noch lange nach dem Besuch der Kinder von der gemeinsam verbrachte­n Stunde. „Die Senioren sind in der Zeit des Besuchs und kurz danach auch wacher.“Das sei oft bei den Nachmittag­en zu beobachten. „Kinder kommen bei Senioren doch immer gut an“, stellt Schindler fest. Fast alle erhielten unabhängig davon regelmäßig Besuch.

Die Grundschul­klasse ist an jedem Nachmittag auf einem anderen Stockwerk des Heims zu Gast. „Das ist leider ein Nachteil. So bauen sich nur schwer engere Bindungen auf“, sagt Annette Herreiner. Die Besuchstag­e sind ein spezielles Projekt der Lehrerin der Ganztagesk­lasse. Es läuft bereits im vierten Jahr. Sie beginne damit im dritten Schuljahr; die Klassen besuchen den Stift also für zwei Jahre. „So lernen die Kinder auch, das Sterben zu akzeptiere­n. Im Seniorenhe­im gehört es nun einmal dazu“, sagt Herreiner. Von den Eltern der Kinder gebe es nur positive Rückmeldun­gen auf ihr Projekt.

Magdalena Hirsch wirft eine Sechs. Das goldene Kreuz an der Kette um ihren Hals geht bei jeder Bewegung mit – sie hat sichtlich Spaß am Spiel. 34 Jahre hat die Seniorin als Arbeiterin in Wertingen geschuftet, nun verbringt sie ihren Lebensaben­d im Kreis der Familie. Ihre dünne Stimme geht im Kichern und den vielen Kinderstim­men ringsum fast unter. An fünf Spielbrett­ern wird gewürfelt und gejammert, in die Hände geklatscht und vor Ärger auf den Tisch gehauen. Eine Pause gibt es bei den Spielrunde­n nicht, Betreuerin­nen reichen Kaffee, Tee, Wasser und kleine Snacks zur Stärkung. Um die Spielbrett­er haben sich Zuschauer eingefunde­n. Die Bewohnerin Sieglinde Krampel sieht mit einem sanften Lächeln zu. „Wenn die Kinder da sind, ist was los. Am liebsten würden wir alle mitspielen, doch heute ist leider kein Platz mehr frei.“

Durch die türhohen Fenster zu allen Seiten des Gemeinscha­ftsraums fällt noch einmal Sonnenlich­t. Unten, im Park, gehen ein paar Gestalten dick eingemummt spazieren. Oben, auf den Brettern, die für eine Stunde die Welt bedeuten, tritt Mensch-ärgere-dichnicht in die heiße Phase ein. Weder die Kinder noch die Senioren nehmen beim Spielen Rücksicht. „Alle wollen gewinnen“, weiß Herreiner. Konzentrie­rt spielt Magdalena Hirsch auch nach einer Stunde am Tisch mit Frieda, Valerie, Michael und Linda.

Viel zu schnell ist der Nachmittag vorbei und die Kinder müssen sich in ihre Daunenjack­en, Schals und Wollmäntel packen. Auf ein lautes „Wiedersehe­n“und vielstimmi­ges „Tschüss“folgt ein leises Wiedersehe­n als Antwort. An der Treppe ist ein Tischchen aufgebaut, gehüllt in eine schwarze Decke. Darauf ist das Bild einer alten Dame zu sehen, flankiert von Kerzen und Blumen. Ein Tag vor dem Besuch ist sie gestorben. Manche der Kinder kannten sie von gemeinsame­n Nachmittag­en. Mitgefühl ist in den Stimmen der Grundschül­er zu hören, als sie die Bedeutung des Altärchens erkennen – kein Unverständ­nis oder Abwenden. Das Leben wird schwerer im Alter und am Ende wartet der Tod. Die Kinder der Grundschul­klasse wissen das – es schreckt sie nicht.

Wenn die Kinder da sind, ist was los

 ?? Fotos: Jonas Voss ?? Die gemeinsame­n Nachmittag­e der Grundschül­er und Senioren im Heilig Geist Stift sind für alle Beteiligte­n immer wieder ein Höhepunkt der Woche. Dabei vertiefen sie sich manchmal auch in spannende Brettspiel­e. Von links: Frieda, Valerie, Michael, Linda,...
Fotos: Jonas Voss Die gemeinsame­n Nachmittag­e der Grundschül­er und Senioren im Heilig Geist Stift sind für alle Beteiligte­n immer wieder ein Höhepunkt der Woche. Dabei vertiefen sie sich manchmal auch in spannende Brettspiel­e. Von links: Frieda, Valerie, Michael, Linda,...
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Mensch ärgere dich nicht fordert von den Senioren viel Konzentrat­ion und Energie.

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