Das Spiel des Lebens
Im Heilig-Geist-Stift Dillingen treffen sich regelmäßig zwei ganz unterschiedliche Generationen. Grundschüler und Senioren verbringen einen Nachmittag miteinander. Davon profitieren alle
Der Gang des zweiten Stockwerks im Dillinger HeiligGeist-Stift liegt im Dunklen. Zimmer an Zimmer verbringen hier Senioren ihren Lebensabend. Ihre Türen sind eingerahmt mit Fotos, gebastelten Blumen oder bunten Collagen. Heute ist kaum ein Laut aus den Zimmern zu hören – still liegt er da, der Elisabeth-Stock. Aus dem Gemeinschaftszimmer am Ende des Flurs schallen Geräusche in den Gang hinein. Helles Kinderlachen mischt sich in die leisen Stimmen älterer Damen, undeutlich ertönt Gemurmel aus einem laut gestellten Fernseher – es geht unter im Stakkato von Würfeln, die auf hölzerne Tische und Spielbretter knallen, über den Boden kullern oder in kleinen und großen Händen geschüttelt werden.
Unbeeindruckt von dem Trubel halten zwei Senioren im Hintergrund des großen Zimmers ihr Mittagsschläfchen. Rote Ledersessel vor schwarzem Fernseher unter gedimmten Leuchten. Die Tagesschau berichtet von den Gräueln der Welt, im Elisabeth-Stock triumphiert Magdalena Hirsch: „Fünf! Damit habe ich deine Figur geschlagen!“Schalk blitzt aus den blauen Augen der älteren Dame auf, während die kleine Frieda, Schülerin der 4b der Grundschule Dillingen, den Platz ihrer Figur auf dem Spielbrett räumen muss.
Kinder und Erwachsene treffen sich im Heilig-Geist-Stift regelmäßig an einem Nachmittag, um etwas Zeit miteinander zu verbringen. Annette Herreiner, der Lehrerin der vierten Klasse, geht es darum, dass die Generationen voneinander lernen. „Die Kinder erfahren hier, sich nicht vor dem Alter zu fürchten. Schließlich erwartet das jeden einmal.“Es gehe um Empathie für die jeweilige Situation des anderen. Und für die Senioren sei es schön, wenn die Buben und Mädchen den Alltag im Dillinger Seniorenheim ein wenig durcheinanderwirbeln. Zusammen basteln sie in Gruppen Kalender oder Blumen, sie musizieren und machen Gedächtnistraining. Oder messen sich bei einer Runde Mensch-ärgere-dich-nicht.
Magdalena Hirsch, die in Kurzzeitpflege im Haus wohnt und ihr Alter nicht nennen möchte, schmeißt den Würfel mit Verve. „Spielen mit Kindern ist doch immer schön“, erzählt sie. Und dass sie Enkel habe – mit denen spiele sie gerne mal Rummikub. Am besten jeden Montag. Sonntags gibt es Kaffeekränzchen, da kommen auch mal acht Personen. „Ich bin zufrieden, alles ist gut“, sagt die Frau mit dem streng gekämmten kurzen Haar und einem Schmunzeln im Gesicht. Währenddessen hat Frieda beim Mensch-ärgere-dich-nicht eine Figur in ihr Haus gebracht, zufrieden klatscht sie in ihre Hände. „Brettspiele machen uns allen sehr viel Spaß. Wir spielen sehr gerne mit unseren Eltern und Großeltern.“
Für Frieda und ihre Mitschüler sind die Nachmittage im Seniorenheim eine schöne Abwechslung zum Schulalltag. Doch nach dem Schuljahr ist damit Schluss – dann geht es auf eine andere Schule. Ihre Klassenkameradin Valerie, langer Zopf und schwarzer Pulli, wirft ein, dass sie diese Nachmittage vermissen werde. „Es macht Spaß, den alten Menschen eine Freude zu bereiten.“Laut Pflegedienstleiterin Gerlinde Schindler-Schneller reden die Senioren noch lange nach dem Besuch der Kinder von der gemeinsam verbrachten Stunde. „Die Senioren sind in der Zeit des Besuchs und kurz danach auch wacher.“Das sei oft bei den Nachmittagen zu beobachten. „Kinder kommen bei Senioren doch immer gut an“, stellt Schindler fest. Fast alle erhielten unabhängig davon regelmäßig Besuch.
Die Grundschulklasse ist an jedem Nachmittag auf einem anderen Stockwerk des Heims zu Gast. „Das ist leider ein Nachteil. So bauen sich nur schwer engere Bindungen auf“, sagt Annette Herreiner. Die Besuchstage sind ein spezielles Projekt der Lehrerin der Ganztagesklasse. Es läuft bereits im vierten Jahr. Sie beginne damit im dritten Schuljahr; die Klassen besuchen den Stift also für zwei Jahre. „So lernen die Kinder auch, das Sterben zu akzeptieren. Im Seniorenheim gehört es nun einmal dazu“, sagt Herreiner. Von den Eltern der Kinder gebe es nur positive Rückmeldungen auf ihr Projekt.
Magdalena Hirsch wirft eine Sechs. Das goldene Kreuz an der Kette um ihren Hals geht bei jeder Bewegung mit – sie hat sichtlich Spaß am Spiel. 34 Jahre hat die Seniorin als Arbeiterin in Wertingen geschuftet, nun verbringt sie ihren Lebensabend im Kreis der Familie. Ihre dünne Stimme geht im Kichern und den vielen Kinderstimmen ringsum fast unter. An fünf Spielbrettern wird gewürfelt und gejammert, in die Hände geklatscht und vor Ärger auf den Tisch gehauen. Eine Pause gibt es bei den Spielrunden nicht, Betreuerinnen reichen Kaffee, Tee, Wasser und kleine Snacks zur Stärkung. Um die Spielbretter haben sich Zuschauer eingefunden. Die Bewohnerin Sieglinde Krampel sieht mit einem sanften Lächeln zu. „Wenn die Kinder da sind, ist was los. Am liebsten würden wir alle mitspielen, doch heute ist leider kein Platz mehr frei.“
Durch die türhohen Fenster zu allen Seiten des Gemeinschaftsraums fällt noch einmal Sonnenlicht. Unten, im Park, gehen ein paar Gestalten dick eingemummt spazieren. Oben, auf den Brettern, die für eine Stunde die Welt bedeuten, tritt Mensch-ärgere-dichnicht in die heiße Phase ein. Weder die Kinder noch die Senioren nehmen beim Spielen Rücksicht. „Alle wollen gewinnen“, weiß Herreiner. Konzentriert spielt Magdalena Hirsch auch nach einer Stunde am Tisch mit Frieda, Valerie, Michael und Linda.
Viel zu schnell ist der Nachmittag vorbei und die Kinder müssen sich in ihre Daunenjacken, Schals und Wollmäntel packen. Auf ein lautes „Wiedersehen“und vielstimmiges „Tschüss“folgt ein leises Wiedersehen als Antwort. An der Treppe ist ein Tischchen aufgebaut, gehüllt in eine schwarze Decke. Darauf ist das Bild einer alten Dame zu sehen, flankiert von Kerzen und Blumen. Ein Tag vor dem Besuch ist sie gestorben. Manche der Kinder kannten sie von gemeinsamen Nachmittagen. Mitgefühl ist in den Stimmen der Grundschüler zu hören, als sie die Bedeutung des Altärchens erkennen – kein Unverständnis oder Abwenden. Das Leben wird schwerer im Alter und am Ende wartet der Tod. Die Kinder der Grundschulklasse wissen das – es schreckt sie nicht.
Wenn die Kinder da sind, ist was los