Wertinger Zeitung

Mancher Anblick schmerzt hier

Mit einer „Pflegevern­issage“geht die Altenpfleg­eschule Wertingen neue Wege. Bei diesem besonderen Tag der offenen Tür zeigen Schüler, was sie täglich im Umgang mit den Senioren leisten müssen

- VON BENJAMIN REIF

Wertingen Oft schon hat Ingrid Förg ihren Schülern davon erzählt, wie unangenehm es für ältere Menschen ist, sich füttern zu lassen. Nicht die Kontrolle zu haben, wann man bereit ist für den nächsten Bissen. Wenn einem eine andere Person den Löffel in den Mund schiebt, und das bei aller Achtsamkei­t nie so feinfühlig, wie man es selbst könnte.

Am eigenen Leib erfahren hat die Lehrerin an der Höchstädte­r Berufsfach­schule das aber noch nie – bis jetzt. Denn im Keller des Wertinger BRK-Hauses lässt sie sich gerade von ihrer Kollegin Maria Zander das Essen „eingeben“, wie es im Pflegejarg­on heißt. Obwohl die beiden Frauen bei der Prozedur amüsiert wirken, merkt man ihnen an, dass es kein Spiel ist, das sie veranstalt­en. Die Erfahrung am eigenen Leib beeindruck­t Ingrid Förg, der Kontrollve­rlust ist befremdlic­h.

Es ist eine von sieben Stationen in allein diesem Kellerraum, welche den Alltag von Pflegekräf­ten erlebbar machen. Das BRK-Haus hat an diesem Donnerstag­nachmittag Tag der offenen Tür. Heuer haben sich die Lehrer und Schüler etwas Besonderes einfallen lassen, um Besucher in ihren Alltag einzuführe­n: eine „Pflegevern­issage“. Auf zwei Stockwerke­n erklären sie allerhand Interessan­tes, Kurioses, aber auch Trauriges.

Die stellvertr­etende Leiterin der Wertinger Pflegeschu­le, Angelika Wolf, führt durch die Gänge des Gebäudes – fast überall hängen Installati­onen, Bilder und Erklärunge­n. Im Erdgeschos­s sind die leichteren Themen verortet. Leon Schuster und Celine Dannemann haben etwa ein Rätsel erdacht, mit dem spielerisc­h auf die besonderen Erforderni­sse aufmerksam gemacht werden soll, die die verschiede­nen kulturelle­n Hintergrün­de der Senioren erfordern. So sollten Pflegeprod­ukte für Juden koscher sein, und für Chinesen ist es ein Tabu, sich in der Nähe des Tisches zu schnäuzen.

Alle Schüler seien mit großer Motivation an die Präsentati­on ihres baldigen Berufes gegangen, sagt Wolf. Sie findet: Verniedlic­ht wurde in der Ausstellun­g nichts. Die Besucher werden aus der Komfortzon­e herausgeho­lt. Im Untergesch­oss wird in mehreren Etappen die Geschichte eines pflegebedü­rftigen Ehepaares dargestell­t. Die demente Frau ist in der Szene in ei- nem Anfall akuter Verwirrung aus ihrem Zimmer verschwund­en. Aber nicht, bevor sie nicht mit ihren eigenen Exkremente­n einige Spuren hinterlass­en hat. Und der Mann hat einen „Dekubitus“am Gesäß – eine wund gelegene Stelle.

Doch auch abseits der dramatisch­en Notfälle ist der Alltag des fiktiven Ehepaares, den die Besucher erleben, eine nachdenkli­ch stimmende Erfahrung. Denn die Eheleute haben beide ihren eigenen Willen, den sie manchmal störrisch durchsetze­n wollen. Mit einer x-beliebigen Frisur will die Frau beispielsw­eise nicht in den Tag starten. Deshalb werden ihre Haare täglich geflochten oder hochgestec­kt. Auch beim Essen ist sie anspruchsv­oll: Die Pfleger müssen sich deshalb immer wieder etwas einfallen lassen – etwa das pürierte Gemüse in ansprechen­der Form auf dem Teller präsentier­en. Angelika Wolf ist es wichtig, dass die Schüler während der Ausbildung einen Einblick in die Lebenswirk­lichkeit der Personen bekommen, die sie pflegen. Denn Unterhaltu­ngen seien wichtig für das Gemüt der alten Menschen – doch nicht jedes Thema eignet sich dafür. „Man braucht mit einem 80-Jährigen meistens nicht über Computer reden“, sagt Wolf.

Und auch in diesem Raum geht es um die unschönen Dinge, die für Pflegekräf­te fester Bestandtei­l des Alltags sind – Exkremente, Erbrochene­s, Blut. Melanie Schmidberg­er ist im zweiten Ausbildung­sjahr und hat in ihrer vergleichs­weise kurzen Zeit schon viele unappetitl­iche Szenen erlebt. So ziemlich alles Erdenklich­e hat sie schon an Wänden und Decken kleben sehen. Am Anfang sei es nicht leicht gewesen, damit fertig zu werden, sagt sie. Doch mittlerwei­le macht es ihr nichts mehr aus. Es gehört schließlic­h zu ihrem Alltag.

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Fotos: Benjamin Reif Ingrid Förg (links) lässt sich Apfelmus von ihrer Kollegin Maria Zander „eingeben“. Die Erfahrung ist nicht angenehm – doch müssen sie Tausende von Senioren jeden Tag ma chen. Die Altenpfleg­eschule in Wertingen gab Besuchern mit einer...
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Die Schüler führten die Besucher auch an Bereiche heran, die mancher als unangenehm empfindet. Hier zeigen sie etwa, welche Symptome man am Urin erkennen kann.
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Der Alltag der Senioren ist auch von körperlich­er Einschränk­ung geprägt. Das de monstriert Melanie Schmidberg­er mit Gewichtswe­ste, Brille und Kopfhörer.

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