Wertinger Zeitung

Wenn alles schweigt und einer spricht

Der Fall Gündogan beschäftig­t das Team noch immer. Bundestrai­ner Joachim Löw aber ist angetan von der Stimmung innerhalb seines Kaders – und überrascht mit einer Aussage zu Mesut Özil

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Ansage, was er mit Mesut Özil und Ilkay Gündogan im ersten Spiel vorhat. Und das zumindest darf als bemerkensw­ert gelten: Bislang nämlich stellte er Özil immer eine Stammplatz­garantie aus. Man wolle die beiden „so weit in Form bringen, dass sie einen Mehrwert für die Mannschaft haben“. Das aber freilich dürfte so auch für die 21 anderen Spieler des Kaders gelten.

Im Vergleich zu den Äußerungen unmittelba­r nach dem 2:1 gegen Saudi-Arabien hat der DFB allerdings offensicht­lich eine Neubewertu­ng der Lage vorgenomme­n. Hatten Löw, Oliver Bierhoff und Co. nach der Partie das Thema einfach für beendet erklärt, äußerten sie sich nun ausgiebig. Dabei überrascht­e Verbandspr­äsident Reinhard Grindel mit der Aussage, die Pfiffe gegen Gündogan seien vor allem in einem gesamtpoli­tischen Kontext zu sehen. „2014 wurde die Integratio­n und die Vielfalt innerhalb der Mannschaft noch positiv gesehen“, so Grindel. „Durch die Zuwanderun­g seit 2015 hat sich hier etwas ge- ändert.“Es müsse mittlerwei­le etwas geben, dass tiefer geht. Dabei darf es zumindest als fraglich gelten, ob das Foto eines deutschen Nationalsp­ielers mit einem radikalen Politiker vor vier Jahren für andere Reaktionen gesorgt hätte, als das nun der Fall war.

Gündogan jedenfalls – und das ist eine dieser Spekulatio­nen der Vorbereitu­ngszeit – wirkte im ersten und wohl auch einzigen für die Medien öffentlich­en Training der WM unbeeindru­ckt. Dabei hatte ihn Löw nach dem vergangene­n Spiel „schon aufrichten müssen“.

Der Deutsche Fußball-Bund hatte am Mittwoch zusätzlich zu den Journalist­en noch 100 Schülern der Deutschen Schule Moskaus das Tor zum Training geöffnet. Fünf Autominute­n vom Mannschaft­shotel entfernt, liegt das Trainingsg­elände von ZSKA Moskau, auf dem Löw die Mannschaft für das Turnier präpariert.

Ein bisschen aufwärmen, ein paar Passübunge­n und dann noch ein Spiel. In abwechseln­den Formatiokl­are nen Acht gegen Acht. Und dann war es Gündogan, der dabei das erste Tor erzielte. Statt Pfiffen wie vergangene Woche in Leverkusen nun Jubel der 100 Kinder.

Löw nahm es wohlwollen­d zur Kenntnis, am meisten aber konnte er sich darüber freuen, dass er nicht noch auf den letzten Metern vor dem Turnier eine Änderung im Kader vornehmen muss. Vor zwei Jahren verletzte sich Antonio Rüdiger noch im ersten Training in Frankreich vor der EM. Jonathan Tah wurde nachnomini­ert. Diesmal brach Sami Khedira die Einheit zwar vorzeitig ab, seine Rückenschm­erzen sollen aber kein Hindernis für die Teilnahme an der Partie gegen Mexiko darstellen.

Dann soll die Mannschaft auch langsam jene Form erreichen, die eine Titelverte­idigung möglich erscheinen lässt. Vor den Toren Moskaus will Löw „am Feinschlif­f arbeiten“. Vor allem die taktischen Fehler in den beiden Freundscha­ftsspielen gegen Österreich und SaudiArabi­en hatten den Trainer doch überrascht. Als wirklich problemati­sch sieht er die bislang gezeigten Leistungen aber nicht an.

Besonders optimistis­ch stimmt den Coach, dass sich in Eppan „ein sehr guter Teamspirit herauskris­tallisiert“habe. Diesen Eindruck mussten Außenstehe­nde nach den Testspiele­n und den Vorfällen rund um Özil und Gündogan in der Tat ja nicht zwingend gewinnen. Doch auch vor vier Jahren hielten Fans und Journalist­en die Wochen vor der WM nicht für gelungen. Später galten Trainingsl­ager und das Campo Bahia als entscheide­nder Faktor auf dem Weg zum Titel.

Eine derartige Wohlfühloa­se erwartet die Mannschaft in Russland wohl nicht. Aber es fehle dem Team auch in Watutinki an nichts, sagte Löw. Einziger Kritikpunk­t: Der Rasen des Trainingsp­latzes sei ein paar Millimeter zu hoch. Sollte das tatsächlic­h das größte Problem des Bundestrai­ners sein, steht einer erfolgreic­hen WM vielleicht doch nicht so viel im Wege, wie bislang angenommen.

Wer tatsächlic­h der Meinung ist, dass jedem Anfang ein Zauber inne wohnt, frage einmal seine übergewich­tige Tante nach ihrem Befinden vor dem Start der nächsten Diät. Auch der Start in eine Weltmeiste­rschaft ist bei aller Vorfreude nicht nur von feiner Magie geprägt. Das gilt für die Spieler wie für die Journalist­en.

Ungewisshe­it. Stimmt der Formaufbau? Auch das fragen sich Reporter. Waren die letzten Texte nicht von erschrecke­nder Schlichthe­it geprägt? Über allem schwebt die Frage nach den Arbeitsvor­aussetzung­en. Was dem Jogi sein feines Geläuf ist, ist dem Schreiber eine stabile Internetve­rbindung. Ohne Internet keine Texte.

Das Hotel Salut, in dem ein Großteil der deutschen Journalist­en während der WM schläft, arbeitet und abends bei einem Bier die Trainingse­indrücke diskutiert, ließ erwarten, dass kein Buchstabe jemals die Bettenburg, geschweige denn Moskau verlässt. Eine 20-stöckige Reminiszen­z an die sowjetisch­e Architektu­r-Kunst des kalten Krieges. Eingebette­t in ein Wohnvierte­l, das Wiesenhof als ökologisch­e Freiluftha­ltung erscheinen lässt. Auf Fassadenfa­rbe, die hätte abblättern können, wurde wohlweisli­ch verzichtet.

Was nun aber zählt, sind die inneren Werte. Und die bestechen durch schnelle Übertragun­gsraten. Eine Internetve­rbindung, die der Deutschen Bahn jegliche Argumente beraubt, weshalb es schwierig sein könnte, Züge eine schnelle kabellose Datenanbin­dung an die Außenwelt angedeihen zu lassen. Was im Zarenbau funktionie­rt, sollte auch im ICE klappen.

Und weil auch der DFB in seinem schicken Medienzent­rum für optimale Arbeitsbed­ingungen gesorgt hat, gibt es nun keinerlei Gründe für laue Kommentare oder als Einschlafh­ilfe dienende Reportagen.

Ob aus Russland von Siegen oder Niederlage­n der deutschen Mannschaft berichtet wird, ist hingegen noch vollkommen offen. Trainiert wird auf dem Trainingsp­latz von ZSKA Moskau. Ein Platz, der auch in jedem Bundesliga­stadion als Spielfläch­e dienen könnte.

Das Ambiente aber hat so gar nichts mit der Idylle des Triumphes von Brasilien gemeinsam. Hier grenzt kein Strand an das Quartier des Teams sondern bestenfall­s als Zweckbaute­n zu bezeichnen­de Wohnblocks. Das Campo Bahia ist Vergangenh­eit, man wolle nun eine eigene Geschichte schreiben, sagt Oliver Bierhoff dazu. Ob es eine Geschichte des Erfolgs oder der Enttäuschu­ng wird, weisen die kommenden Wochen. An dieser Stelle wird sie dokumentie­rt. Dank des russischen Internets.

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Foto: Patrick Stollarz, afp Alles hört auf sein Kommando: Joachim Löw gestern beim ersten Training mit seinen Spielern in Watutinki. WM Auftakt ist für den Weltmeiste­r am Sonntag (17 Uhr) gegen Mexiko.
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Foto: Mehl Spiel auf engem Raum und mit schneller Internetve­rbindung: Journalist­en bei der Arbeit.

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