Oder soll man es lassen? Die Debatte über ein Pro und Contra
Medienethik Wann hat das begonnen? Dass viele mit Kritik nicht mehr umgehen können? Mit dem Siegeszug der sogenannten sozialen Medien, deren Algorithmen emotionale Äußerungen – insbesondere Beleidigungen, polemische Zuspitzungen, Hasskommentare – belohnen? Weil solche Beiträge („Gefällt mir“, Daumen hoch) oft verbreitet werden und in den Timelines nach oben gespült werden? Wann ist der Anstand, über den gerade wieder verstärkt diskutiert wird, auf der Strecke geblieben? Wann die Empathie, die (Mit-)Menschlichkeit?
Wahrhaft: große Fragen! Aber in den gegenwärtigen Debatten geht es stets und umgehend um das Große und Ganze. Das konnte man an zwei Debatten sehen, die in den vergangenen Tagen erst in der Medienbranche, dann in einer breiteren Öffentlichkeit geführt wurden:
Warum wird über die in einer Höhle eingeschlossenen und nun geretteten thailändischen Jungen und ihren Trainer ausführlich berichtet, in weitaus geringerem Maße jedoch über das Leid der Flüchtlinge, die sich auf den lebensgefährlichen Weg übers Mittelmeer begeben?
Wie kann es sein, dass Die Zeit in ihrer Ausgabe vom 12. Juli ein Pro und Contra zum Thema private Seenotrettung veröffentlicht mit der Einleitung: „Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim?“– unter der Titelzeile „Oder soll man es lassen?“und beides über einem Bild, das Flüchtlinge in Rettungswesten auf einem überfüllten Schiff zeigt (unser Foto)?
Beide Beispiele haben nichts miteinander zu tun – und doch sehr viel. Es geht um die Auswahl, Gewichtung und journalistische Aufarbeitung von Themen. Beileibe keine neue Debatte. Was in diesem Fall aber geschehen ist: Das Leid der Eingeschlossenen wurde mit dem Leid der Flüchtlinge vermischt und mit allerlei anderen Dingen. Und weil in diesen aufgeregten Zeiten alles politisch und skandalträchtig zu sein scheint und von Polemik und Hass überlagert wird, geht es längst nicht mehr um die Sache, sondern – genau! – ums Große und Ganze.
Zum ersten Beispiel: Selbstverständlich kann man der Meinung sein, dass zu wenig über die SchiffsFlüchtlinge und zu viel über die thailändischen Jungen berichtet wurde. Darum ging es allerdings schnell nicht mehr. Da twitterte nämlich Georg Restle: „Warum interessieren uns die zwölf Jugendlichen in Thailand mehr als tausende ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer?“Restle leitet das öffentlichrechtliche ARD-Polit-Magazin „Monitor“und ist unter anderem wegen seiner als moralisierend empfundenen „Tagesthemen“-Kommentare höchst umstritten. O-Ton Roland Tichy: „Georg Restle als Propagandist des Propagandafunks.“Der ebenfalls, aber aus anderen Gründen („Scharfmacher“) umstrittene Bild-Chef Julian Reichelt antwortete Restle auf Twitter: „Der diffuse, kollektive Vorwurf, ,uns‘ würden die eingeschlossenen Kinder mehr interessieren als das Leid von Flüchtlingen, ist ein neuer bitterer Höhepunkt. Wie kann man nur ohne Beleg implizieren, dass das Schicksal welcher Kinder auch immer irgendwie zu wichtig genommen wird?“Die Bild hatte, natürlich groß, über das „Höhlen-Drama“berichtet.
Damit vermengten sich allerlei Aufreger-Themen, die den im Internet tobenden Kampf der Ideologen und Ideologien beständig und zuverlässig befeuern: Flüchtlingspolitik, der gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk (samt der Frage, wie „politisch“sich dessen Journalisten in sozialen Netzwerken äußern dürfen), die BildZeitung und ihr polarisierender Chef, der fast mit jedem seiner Tweets einen Shitstorm auslöst...
Die Ausgangsfrage spielte angesichts dessen kaum eine Rolle. Man hätte sie mit der Nachrichtenwerttheorie, ein Begriff aus der Kommunikationswissenschaft, beantworten können. Sie erforscht, wie Medien Nachrichten auswählen. Mit ihr ließe sich erklären, warum das Höhlen-Drama eine Zeit lang das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer in den Hintergrund rückte. Dass es sich um einen aktuellen und einzigartigen Fall handelte, ist Teil der Erklärung. Eine „gerechte“Nachrichtenauswahl kann es nicht geben. Was der Nachrichtenwert „lokale Nähe“verdeutlicht. Wenn, wie vor drei Jahren, ein Tornado über Teile der Landkreise Augsburg und Aichach-Friedberg hinweggefegt, berichtet eine Regionalzeitung wie unsere intensiver darüber als über jenen Tornado am Niederrhein, der dort im Mai wütete.
Klaus-Dieter Altmeppen sieht das anders. Ich bat den JournalistikProfessor der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt um seine Einschätzung. Er leitet mit Medienethiker Alexander Filipovic auch das „zem::dg – Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft“und schrieb mir am Mittwoch: Nähe sei kein Argument, das Mittelmeer sei Deutschland geografisch wesentlich näher als Thailand. „Sicher muss der Journalismus gewichten und auswählen. Sicher kann der Journalismus mit seiner Wirklichkeitskonstruktion die Realität nicht in ihrer Komplexität wiedergeben. Aber unter dem Diktat der Ökonomisierung versucht es der Journalismus in weiten Teilen ja nicht einmal mehr.“Katastrophen, Krisen, Konflikte ließen sich dann am besten monetarisieren, wenn sie emotional verpackt würden.
Wohl auch ein Teil der Erklärung. Und jetzt zur Zeit und ihrem nach wie vor umstrittenen Pro und Contra zur privaten Seenotrettung. Es sei irritierend, so Altmeppen, „dass eine sogenannte Qualitätszeitung sich auf das Niveau der BildZeitung herablässt“. Lebensrettung sei eine Frage der Humanität, „da gibt es keine Legitimität zu einem Pro oder Contra“. Die Überschrift („Oder soll man es lassen?“) will Altmeppen dabei nicht als bloßen handwerklichen Fehler abgetan wissen. Er vermutet Absicht, „weil das die Leser ködern sollte“. Und, nochmals ganz grundsätzlich: „In einer gesellschaftlichen Lage, in der Flucht und Migration hochemotionale Themen sind, erwarte ich von Medien sowie Berichterstattern und Berichterstatterinnen Achtsamkeit, Respekt und Wahrhaftigkeit.“
Als Reaktion auf das Pro und Contra der Zeit hatte Tim Wolff, Chefredakteur des Satire-Magazins Titanic, eine Online-Abstimmung getwittert: „,Zeit‘-Mitarbeiter auf offener Straße erschießen? Pro Contra“. Was, wie beabsichtigt, wiederum zu Diskussionen führte, etwa über die schier ewige Frage: Was darf Satire? Journalistenkollegen erkannten in Wolffs Tweet jedenfalls mehr einen Mordaufruf denn eine Satire.
Mein Fazit: Man soll es auf keinen Fall lassen, über das Große und Ganze (inklusive die private Seenotrettung) zu diskutieren. Es ist nötiger denn je, auch in der Medienbranche. Die Zeit-Chefredaktion hat übrigens ihr Bedauern über das Pro und Contra ausgedrückt. Zuletzt am Donnerstag auf Seite 1.