„Der moderne Mensch weiß kaum etwas über Ernährung“
Historiker Uwe Spiekermann über den Aufstieg künstlicher Lebensmittel, den Bio-Kult im Dritten Reich und ungenießbares Bier
Herr Spiekermann, wer den Fernseher anschaltet, stößt auf unzählige KochShows, im Internet entstehen immer neue Food-Blogs. War Ernährung noch nie so wichtig wie heute? Spiekermann: Als Historiker muss ich über Ernährungstrends schmunzeln. Wir denken ja fälschlicherweise, unsere Art des Essens sei völlig neu. Richtig ist, dass Lebensmittel viel stärker ästhetisiert werden als früher. Gleichzeitig weiß der moderne Mensch kaum noch etwas über Ernährung. Und aus diesem Unwissen entstehen neue Mythen und Befürchtungen. Denken Sie nur an Lebensmittelskandale oder die Angst vor Unverträglichkeiten. Wir stellen den paradiesischen Zustand, in dem wir leben, an die Seite einer steten Sorge um unsere Ernährung.
Aber sind die Zeiten angesichts von Massentierhaltung oder Gentechnik wirklich so paradiesisch? War früher nicht doch einiges besser? Spiekermann: Das ist eine Romantisierung der Vergangenheit, die sehr häufig stattfindet. Die „gute, alte Zeit“gab es aber nie. Wenn wir uns das 19. Jahrhundert anschauen, sehen wir, dass alle Lebensmittel substanziell anders waren als das, was wir heute kennen. Weizen etwa ist heute nur noch halb so hoch wie damals. Dafür gibt es ihn aber auch in Norddeutschland und weit darüber hinaus, was bis in die 1930er Jahre nicht möglich war. Oder Bier: Früher schmeckte es im Winter anders als im Sommer und manchmal schmeckte es auch einfach nur grausig. Erst die Kältetechnik hat es möglich gemacht, standardisiertes Bier einheitlicher Güte herzustellen.
Räumen Sie gern mit unseren romantischen Vorstellungen auf. Wie muss man sich die Ernährungsrealität im 19. Jahrhundert vorstellen? Spiekermann: Wir haben in Deutschland bis in die 1840er Jahre deutliche Unterversorgung bis hin zu Hungersnöten. Schauen Sie sich nur den menschlichen Körper an: Wir sind heute durchschnittlich 15, 16, 17 Zentimeter größer als damals. Das hängt nicht zuletzt mit der verbesserten Eiweißzufuhr zusammen. Die Lebenserwartung ist deutlich höher, die Zahl der Krankheiten niedriger. Bei aller berechtigter Kritik an den Problemen innerhalb der Versorgungsketten heute bleibt unter dem Strich ein klares Plus. Menschen suchen also in der Vergangenheit etwas, das sie in der Gegenwart problemlos finden könnten.
Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich Unternehmer wie Julius Maggi oder Justus von Liebig daran gemacht, die Ernährungswelt zu revolutionieren. Warum genau zu diesem Zeitpunkt? Spiekermann: Das hat mit dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaften zu tun, insbesondere der modernen Chemie. Bis zu diesem Zeitpunkt war Ernährung etwas, das von Alltagsvorstellungen und Religion bestimmt war. Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Wissenschaftler die Stoffe zu erforschen, die in den Lebensmitteln enthalten sind. Die für Deutschland zentrale Person war Justus von Liebig, ein Gießener Chemiker, der organische Stoffe isolierte und benannte. In den 1840er Jahren erfand er den berühmten Liebigschen Fleischextrakt, einen Vorläufer der Speisewürzen und Brühwürfel.
Liebig wollte die Ernährung der einfachen, häufig unterernährten Bevölkerung verbessern. Ist ihm das gelungen? Spiekermann: Der Fleischextrakt etablierte sich nicht in der Breite des Volkes, sondern in den Küchen des Bürgertums. Allerdings stellte sich heraus, dass er neben Mineral- und Geschmacksstoffen praktisch keinerlei Nährwert hatte. Ein kommerzieller Erfolg war der Extrakt dennoch, Liebig war ein guter Geschäftsmann.
Sie schreiben, dass vor allem die beiden Weltkriege der künstlichen Nahrung zum Durchbruch verhalfen. Warum? Spiekermann: Kriege sind Notzeiten, in denen versucht wird, Vorräte zu strecken. Konservierung und Aufbewahrung von Lebensmitteln wird deutlich wichtiger. Dementsprechend gibt es auch staatliche Subventionen für die Erforschung dieser Techniken. Daneben wurde viel Geld in die Ernährung der kämpfenden Truppe gesteckt. Die Wehrmacht hat allein 250 000 Köche ausgebildet. Sie war auch Wegbereiter für moderne künstliche Kost, zum Beispiel Soja-Lebensmittel.
Gleichzeitig förderten die Nazis den Anbau von biologischen Lebensmitteln. Wie passt das zusammen? Spiekermann: Das eine schließt das andere nicht aus. Die Nationalsozialisten propagierten regionale und biologische Lebensmittel, weil sie davon ausgingen, dass sich die Bevölkerung so im Kriegsfall besser versorgen kann. Sie entfachten einen regelrechten Kult um Öko-Nahrung. Viele Höfe begannen damals, biologisch-dynamische Lebensmittel auf den Markt zu bringen. Edeka richtete während des Krieges sogar Bio-Ecken ein. Natürlich kann man das nicht eins zu eins auf die Gegenwart übertragen: Heute geht es bei biologischer Ernährung um die Gesundheit des Einzelnen. Für die Nazis war ökologische Ernährung vor allem eine Waffe, die dem Volk einen Vorteil bringen sollte.
Lassen sich Lebensmittel also beliebig mit Inhalten aufladen? Spiekermann: Tatsächlich können alle möglichen Dinge auf sie projiziert werden. Heute trinken wir mit Tee Glück oder verbinden mit Joghurt die rettende Lebenskur. Das zeigt wieder, wie wenig wir über Lebensmittel wissen. Werbung und Handel, aber auch Mediziner und Chemiker suggerieren Bilder, denen der Verbraucher dann folgt.
Was ist die Erklärung dafür? Spiekermann: Die Zubereitung von Essen und Nahrungsmitteln wurde Schritt für Schritt an Experten abgegeben. Dadurch wurde das Wissen verdrängt, das bisher im Haushalt vorhanden war. Heute bekommt der Verbraucher an jeder Ecke fertige Lebensmittel. Es gibt für ihn keinen Grund, sich noch übermäßig mit seinem Essen zu beschäftigen.
Lässt sich diese Entwicklung überhaupt noch umkehren? Spiekermann: Eine Gesellschaft wie die unsere kann auf künstliche Kost nicht verzichten. Im 19. Jahrhundert gab man 55 Prozent des Einkommens für Essen aus. Die Arbeitseinteilung war klassisch patriarchalisch: Der Mann arbeitete, die Frau kümmerte sich um die sehr zeitintensive Essenszubereitung. Wenn wir ein modernes Leben führen wollen, müssen wir bestimmte Aufgaben an Experten delegieren.
Sie haben seit 2001 an Ihrem Buch gearbeitet. Hat sich Ihr eigenes Verhältnis zum Essen dadurch verändert? Spiekermann: Man entwickelt eine gewisse Gelassenheit. Ich weiß, dass die Wahrheit in der Mitte liegt, also bei einer gesunden Mischkost. Damit fahre ich bisher ganz gut.
Interview: Sarah Schierack
Uwe Spiekermann: Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute. Vandenhoeck & Ruprecht, 948 Seiten, 60 Euro.