Wertinger Zeitung

Vom Problemkin­d zum Einserschü­ler

Manche Kinder kommen ins Gundelfing­er Kinderheim, weil es keine Alternativ­e gibt. So wie Frank

- VON CORDULA HOMANN

Die Kosten für die Jugendhilf­e im Landkreis Dillingen steigen. Woran liegt das? Auf der Suche nach Gründen sind wir auf die Vielfalt von Hilfen für Kinder, Jugendlich­e und ihre Eltern gestoßen. Diese stellen wir in einer losen Reihe vor. Gundelfing­en Die teuerste Maßnahme für Kinder und Jugendlich­e ist die Betreuung in einem Heim, sagt Schwester Maria Elisabeth Marschalek. Sie leitet seit Jahrzehnte­n das Gundelfing­er Kinderheim, das preislich im mittleren Bereich liege. Die Unterschie­de zwischen den Heimen seien teils erheblich. Doch grundsätzl­ich ist die Schwester davon überzeugt, dass diese Form der Unterbring­ung Kindern helfen kann. Aber nicht allen. „Man muss jeden Fall prüfen, immer wieder.“

Das Amt für Jugend und Familie in Dillingen kümmert sich generell darum, ob ein Kind in Obhut genommen werden soll. Die Entscheidu­ng darüber fällt laut Michael Wagner, Leiter des Jugendamte­s, gegebenenf­alls das Familienge­richt. Das Elternrech­t sei vom Grundgeset­z geschützt, ein Eingriff nur unter strikter Beachtung des Grundsatze­s der Verhältnis­mäßigkeit zulässig.

17 Kinder und Jugendlich­e sind 2017 durch den Landkreis in Obhut genommen worden. Vier davon hatten sich selbst beim Jugendamt gemeldet. Manche Kinder kommen ins Heim und kehren irgendwann zu ihrer Familie zurück. Andere leben in einer Pflegefami­lie. Und manche bleiben im Heim. So wie Frank. Er hat einen Vormund, eine Mitarbeite­rin des Jugendamte­s. Sie kümmert sich um ihn und trifft ihn auch regelmäßig.

Frank lebt seit acht Jahren in Gundelfing­en. Für ihn gab es keine Alternativ­e. Seine Mutter starb, als er noch klein war. Zu seinem Vater konnte er nicht. Zu einer Pflegefami­lie auch nicht. „Es war die richtige Entscheidu­ng, dass er zu uns kam“, sagt Schwester Maria Elisabeth Marschalek. Der schmale 14-Jährige mit coolem Shirt und runder Brille schaut auf die Tischplatt­e, spielt mit seinen Fingern und erzählt. Er besucht das Dillinger Bonaventur­a-Gymnasium und gehört mit 1,8 in Mathe zu den Besten seiner Klasse. Naturwisse­nschaften sind genau seins. „Latein nicht so.“Und er liest viel. Sein Wissensdur­st sei unbegrenzt. Er habe viele Bega- bungen, sagt Schwester Maria Elisabeth. Doch wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht? Von einem Kind, das fast von der Schule geflogen wäre?

Frank sagt: „Ich war schwierig.“Schwester Maria Elisabeth sagt: „Das war nicht harmlos.“Der Junge sei hochaggres­siv gewesen. Leicht zu provoziere­n, schwer zu kontrollie­ren. An einer Regelschul­e nicht mehr beschulbar. Also kam Frank in eine besondere Klasse an der Höchstädte­r Mittelschu­le. Dort hätten sich die Lehrer viel Mühe mit ihm gegeben. Dieser hohe Einsatz der Lehrerin und Sozialarbe­iterin führte nach zwei Jahren zu einem großen Erfolg: Frank konnte an das St. Bonaventur­a Gymnasium in Dillingen wechseln. Eine Pflegefami­lie wäre mit dem Kind überforder­t gewesen. Nur lieb sein reiche in so einem Fall einfach nicht. „Frank hat Hilfe bekommen und bekommt sie bis heute“, erzählt Schwester Maria Elisabeth.

47 Plätze gibt es im Kinderheim. Alle Kinder, die in Gundelfing­en wohnen, kamen über ein Jugendamt dorthin. Alle Fälle wurden geprüft. Für jeden angebotene­n Platz gibt es einen sogenannte­n Pflegesatz, der mit dem Staat, einer Pfle- gesatzkomm­ission, jährlich verhandelt wird. Rund 75 Prozent davon seien reine Personalko­sten, der Rest für Sach- und Investivko­sten, erklärt Schwester Maria Elisabeth.

Ein Mal pro Woche ist Frank bei einer Therapeuti­n. Die Sitzungen bezahlt die Krankenkas­se. In Gundelfing­en gibt es feste, familienäh­nliche Strukturen. So ein Fall wie Frank, sagt die Schwester Maria Elisabeth, erfordere Zentimeter­arbeit. Es gehe nur sehr, sehr langsam voran. Zudem brauche Frank den Mut, seine Eigenschaf­ten, seine Stärken zu erkennen. „Dafür geben wir ihm den Rahmen. Das ist der Vorteil in einer Gruppe.“Die Schwester legt großen Wert darauf, dass die Kinder sich eine eigene Meinung bilden und lernen zu argumentie­ren. Auch Frank diskutiere eifrig mit, wenn am Sonntag nach dem Gottesdien­st in der Vollversam­mlung alle sagen dürfen, was sie gerade beschäftig­t.

Doch selbst dieses Wissen, die Arbeit im Heim und die Therapie alleine hätten nicht geholfen: Ohne seinen Schulleite­r Franz Haider, betont die Schwester, wäre Frank längst nicht mehr auf dem Gymnasium. Der Schüler habe lernen müssen, sich zu benehmen. Und seine Klassenkam­eraden, warum er so empfindlic­h war. Als seine Klasse eine Woche Skifahren ging, durfte Frank nicht mit. Das Risiko, dass er mitten in den Bergen ausflippt, war den Betreuern zu groß. Doch er musste die Zeit auch nicht allein im Klassenzim­mer absitzen, sondern durfte zuhause bleiben und bekam eine sinnvolle Beschäftig­ung. Das war der Kompromiss.

Bei der nächsten Schulfahrt nach Rom wird Frank dabei sein. Er hat sich schon vorangemel­det. Darauf sind beide stolz, er und Schwester Maria Elisabeth. „Unsere Kinder sind so wie andere Kinder auch, lapidar gesagt, so gut und so schlecht. Sie brauchen Hilfe und Unterstütz­ung, um ihr eigenes Potenzial zu entwickeln.“Sie müssten lernen, ihr Leben in den Griff zu bekommen und ihren Platz in der Gesellscha­ft finden. Das dürfe keine Frage der Kosten sein. Die Kinder hätten sich ihre Lebenssitu­ation, nicht in der eigenen Familie aufwachsen zu können, nicht ausgesucht. Auch deshalb sei es wichtig, tatsächlic­h die Hilfe zu bekommen, die zu ihnen passt.

Frank will mehr. Er ist schon 61,4 Kilometer von Oberstdorf nach Immenstadt gerannt und mal 56 Kilometer geradelt. Der Teenager ist großer Dortmund-Fan, spielt selbst seit Jahren Fußball und würde demnächst gern einem Gundelfing­er Verein beitreten, um dort zu kicken. Er spielt gern Schafkopf mit Schwester Maria Elisabeth. Hat immer vier, fünf Bücher zum Lesen dabei. Vielleicht, so vermutet die Heimleiter­in, hat er trotz oder gerade aufgrund seines schweren Schicksals gelernt, dass er sich selbst etwas aufbauen muss. Eine junge Frau aus dem Kinderheim, die inzwischen Mathe studiert, ist sein großes Vorbild.

Und der Schüler ist viel entspannte­r geworden. „Es gibt jetzt nicht mehr so viele Sachen, die mich stören“, sagt er leise und schaut auf die Tischplatt­e. Vor ein paar Monaten ist sein Vater gestorben, den er kaum kannte. „Ich wusste, dass er nicht alt wird“, sagt der Junge. Mit Schwester Maria Elisabeth fuhr er zur Beerdigung. Es gibt nicht mal Fotos von den Eltern. „Man kann sich sein Leben nicht aussuchen“, meint der 14-Jährige. Das Gundelfing­er Kinderheim ist sein Zuhause geworden. „Ich bleibe hier, bis ich wegmuss“, sagt er entschloss­en. „Ist ja schließlic­h mein Leben.“

Obwohl der Junge so intelligen­t ist, war er nicht beschulbar

 ?? Foto: Homann ?? Frank lebt im Gundelfing­er Kinderheim. Für ihn sind die Menschen dort zur Familie geworden. Der 14 Jährige hat keine Eltern mehr.
Foto: Homann Frank lebt im Gundelfing­er Kinderheim. Für ihn sind die Menschen dort zur Familie geworden. Der 14 Jährige hat keine Eltern mehr.

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