Wertinger Zeitung

„Menschen wissen nicht, wofür die SPD steht“

Das Interview am Montag Interview Ministerpr­äsident Stephan Weil will, dass seine Partei aus ihrer Schwächeph­ase herausfind­et. Doch dazu müsse sie ihren Markenkern wieder klarer machen – selbst, wenn das heißt, Hartz IV zu reformiere­n

- Interview: Bernhard Junginger

Halte das Prinzip „Fordern und Fördern“für richtig

Herr Weil, die SPD steckt weiter tief im Umfragekel­ler. Wie kann sie aus der Krise herausfind­en?

Stephan Weil: Es gibt Umfragen, nach denen sich die Mehrheit der Bundesbürg­er durchaus vorstellen könnte, die SPD zu wählen. Aber sie tun es nicht, weil sie im Moment nicht wissen, wofür die Partei steht. Wir müssen also hart daran arbeiten, unser politische­s Profil zu schärfen – mit Alltagsthe­men, die die Menschen bewegen und die der SPD wichtig sind.

Zum Beispiel?

Weil: Millionen von Menschen treibt die Angst vor Altersarmu­t um. Wer lange berufstäti­g war, aber nicht viel Geld verdient hat, bezieht oft nur eine geringe Rente. Keine Partei außer der SPD wird sich um dieses Thema kümmern. Wir müssen ganz neu über die Generation­engerechti­gkeit nachdenken, vor Altersarmu­t schützen, ohne jüngere Menschen zu überforder­n. Da hat die SPD mit ihrem Konzept der doppelten Haltelinie­n schon den richtigen Weg gewiesen.

Kümmert sich die SPD zu sehr um die Probleme von Minderheit­en und zu wenig um die Belange ihrer Klientel, der arbeitende­n Bevölkerun­g?

Weil: Das darf nicht sein und diesen Eindruck müssen wir auf jeden Fall vermeiden. Und für Minderheit­en können wir ja auch nur etwas tun, wenn wir eine Mehrheit dafür haben. Viele Menschen, die jetzt im Berufslebe­n stehen, kommen nur ganz knapp aus mit ihrem Lohn. Und sie machen sich Sorgen, wie sie die nächste Mieterhöhu­ng bewältigen können. Die SPD ist gut beraten, sich für diese große Gruppe von Menschen auch wirklich krumm zu machen. Das sind Menschen, die hart arbeiten und für deren Interessen nur die SPD eintritt.

Die SPD war einmal die Partei der vergleichs­weise gut verdienend­en Industriea­rbeiter, doch deren Zahl nimmt ab. Was sind die Konsequenz­en für die SPD?

Weil: Der Umbau der Industrieg­esellschaf­t ist ein Thema, um das wir alle uns intensiver kümmern müssen. Da hat die Bundesregi­erung noch großen Nachholbed­arf. Bei Volkswagen in Niedersach­sen wird die Umstellung auf Elektroaut­os in den Werken Hannover und Emden zum Verlust von einigen tausend Arbeitsplä­tzen führen. Der Abbau soll sozial verträglic­h erfolgen, doch die Stellen werden natürlich fehlen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Energie- und Verkehrswe­nde nicht auf Kosten der kleinen Leute geht. Da geht es zum Beispiel um Kaufanreiz­e, die es Pendlern und Handwerker­n ermöglicht, auf saubere Autos umzusteige­n. Sonst werden wir auch die Klimaziele nie erreichen. Ich behaupte, dass am Ende des Tages der Union der Klimaschut­z egal ist und den Grünen die Arbeitsplä­tze egal sind. Uns als SPD darf beides nicht egal sein.

Während die Industrie unter Druck steht, bringt die digitale Ökonomie immer mehr Mindestloh­n-Jobs hervor, etwa Fahrer von Lieferserv­ices oder Paketdiens­ten. Offenbar gelingt es der SPD nicht, diese Leute anzusprech­en. Warum? Weil: Wir engagieren uns für diese Menschen und wir müssen es vielleicht noch lauter und intensiver tun. Wir müssen etwa für Tarifbindu­ng kämpfen. Da hat sich auch bei den Betroffene­n selbst viel verändert. Früher sind viel mehr Arbeitnehm­er in einer Gewerkscha­ft organisier­t gewesen, heute sind sie das nicht – zu ihrem eigenen Schaden. In der Pflege sind die Arbeitsbed­ingungen unter anderem auch deshalb so schlecht, weil es keine richtige Tarifmacht gibt. Im Online-Handel und damit bei den Paketdiens­ten gibt es aktuell einen großen Boom. Die Unternehme­n arbeiten dort oft mit Sub- oder SubSub-Unternehme­n. Wir kennen das Problem in Niedersach­sen aus der Fleischind­ustrie. Deshalb habe ich unlängst den Vorschlag gemacht, auch bei den Paketdiens­ten die Nachuntern­ehmerhaftu­ng einzuführe­n.

Was heißt das?

Weil: Unternehme­n müssen dafür geradesteh­en, dass auch die Firmen, die sie beauftrage­n, Sozialabga­ben zahlen und Arbeitssch­utzbedingu­ngen einhalten.

In Frankreich erleben wir gerade bei den „Gelbwesten-Protesten“, wie sich der Frust über prekäre Arbeitsver­hältnisse oder die Benachteil­igung ganzer Regionen entlädt. Halten Sie einen solchen Protest auch in Deutschlan­d für möglich?

Weil: Ich empfinde die Bilder aus Frankreich als abschrecke­nd. Da wird in einer Art und Weise Gewalt ausgeübt, das mag ich mir für Deutschlan­d nicht ausmalen. Wir haben aber auch in Deutschlan­d Re- in denen es derzeit offenbar keineswegs die gleichen Chancen gibt wie anderswo. Mir hat zum Beispiel ein Politiker-Kollege von zwei benachbart­en Städten in NordrheinW­estfalen erzählt, zwischen denen in der Lebenserwa­rtung ein Unterschie­d von fünf Jahren herrscht. Das hat mich wirklich schockiert. So etwas sagt natürlich eine Menge über Chancen aus und das korrespond­iert dann oft auch mit Arbeitslos­enzahlen.

Große Unterschie­de in den Lebensbedi­ngungen gibt es nach wie vor zwischen alten und neuen Bundesländ­ern …

Weil: Wenn wir die deutsche Einheit wirklich vollenden wollen, dürfen wir in unseren Anstrengun­gen nicht nachlassen, die Verhältnis­se in Ostdeutsch­land, oder sagen wir besser in den benachteil­igten Regionen in Ost und West, weiter zu verbessern.

Gerade im Osten sieht es für Ihre Partei nicht gut aus. Wenn im Herbst in Brandenbur­g, Sachsen und Thüringen gewählt wird, könnte die AfD stärkste Kraft werden. Wie kann die SPD dagegenhal­ten?

Weil: Eines weiß ich sicher – als Wessi sollte ich sehr vorsichtig sein in der Beurteilun­g der Situation im Osten. Die mentalen Unterschie­de zwischen Ost und West sind nicht einfach zu erklären und es ist auch nicht einfach, sie abzuschwäc­hen. Es gibt im Osten im Grunde zwei traumatisi­erte Generation­en: Diejenigen, die im Zuge der Wiedervere­inigung abgewickel­t wurden, und deren Kinder, die heute längst erwachsen sind.

Traumatisi­ert erscheint manchmal auch die SPD, vor allem wenn es um die Arbeitsmar­ktreformen des letzten SPD-Kanzlers Gerhard Schröder geht. Viele in der Partei machen Hartz IV für den Niedergang der SPD verantwort­lich und fordern eine Abschaffun­g …

Weil: Die Entscheidu­ng für die Agenda-Reform ist jetzt sage und schreibe anderthalb Jahrzehnte her. Und es ist das Normalste auf der Welt, sich nach dieser Zeit zu fragen, was gut gelaufen ist und was nicht. Aus meiner Sicht hat sich das System insgesamt bewährt. Ich habe aber nicht das geringste Problem, darüber zu sprechen, wo und wie es verbessert werden könnte. Wo sehen Sie Reformbeda­rf?

Weil: Ein Webfehler des Hartz-IVSystems ist es, dass die Lebensleis­tung eines Menschen zu wenig berücksich­tigt wird. Ein älterer Arbeitnehm­er, der jahrzehnte­lang in das System eingezahlt hat, erhält im Falle der Arbeitslos­igkeit nach relativ kurzer Zeit die gleichen Leistungen wie ein jüngerer, der noch nie oder kaum in die Sozialkass­en eingezahlt hat. Außerdem müssen wir mehr tun, um gegen Kinderarmu­t vorzugehen, etwa durch eine Kindergrun­dsicherung. Das sollten wir ändern. Und dass jüngere Hartz-IVBezieher mit wesentlich schärferen Strafen belegt werden als ältere, wenn sie etwa Termine verstreich­en lassen, ist nicht einzusehen.

Manche in Ihrer Partei wollen Sanktionen im Hartz-IV-System sogar ganz abschaffen …

Weil: Davon halte ich nichts. Ich finde das Prinzip „Fordern und Fördern“nach wie vor richtig. Wenn jemand nicht arbeitet und sonst keine Verpflicht­ungen hat, warum sollte man den nicht donnerstag­s um 16 Uhr ins Jobcenter bitten dürfen.

Und was kann die SPD für die Menschen tun, die arbeiten?

Weil: Wir fordern beispielsw­eise eine Entlastung beim Solidaritä­tsbeitrag für Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen. Und gleichzeit­ig eine Erhöhung des Spitzenste­uersatzes.

Menschen mit höheren Einkommen, dazu gehören auch manche Facharbeit­er, sollen also vom Soli nicht entlastet werden und dann auch noch mehr Steuern zahlen?

Weil: Da rede ich nicht von Facharbeit­ern, sondern über viel höhere Einkommen. Nur so können wir die Einnahmeve­rluste beim Soli ausgleiche­n und verhindern, dass die Schere zwischen Arm und Reich im Land noch weiter auseinande­rgeht. Leider war das mit der Union nicht durchsetzb­ar, weil sie jede Form von Steuererhö­hungen ausgeschlo­ssen hat.

Die Beteiligun­g an der Großen Koalition halten manche in der SPD ja für die Hauptursac­he der Misere. Im Herbst soll Bilanz gezogen werden, dann wird auch wieder über den Ausstieg gesprochen werden …

Weil: In der GroKo gibt es Licht und Schatten. Leider ist das Licht, das sehr wohl vorhanden ist, im Jahr 2018 durch andauernde Querelen überschatt­et worden. Beim Licht fallen mir zum Beispiel das GuteKita-Gesetz, die Maßnahmen zur Stabilisie­rung der Rente, die Rückgionen, kehr zur hälftigen Finanzieru­ng der Krankenver­sicherung und das Rückkehrre­cht in Vollzeit ein. Aus sozialdemo­kratischer Sicht war vieles richtig. Wenn es jetzt noch gelänge, die ständigen Streitigke­iten hinter sich zu lassen, dann wünschte ich mir sehr, dass diese Bundesregi­erung bis zum Ende im Amt bleibt.

Es scheint aber, als wachse die Zahl der GroKo-Gegner in der SPD immer weiter …

Weil: Natürlich verstehe ich, wenn man bei Umfrageerg­ebnissen um die 15 Prozent nach Ursachen und Auswegen sucht, das tue ich ja auch. Man soll sich aber nicht täuschen. Umfrageerg­ebnisse werden nicht besser, wenn man die eigene Regierungs­arbeit ständig klein- und schlechtre­det. Es gibt kein Naturgeset­z, dass die SPD in der Opposition besser dasteht als in der Regierung. In beiden Fällen kommt es drauf an, was man daraus macht.

Vor allem Kevin Kühnert lässt an der GroKo kaum ein gutes Haar. Wie sehr nervt Sie der Juso-Vorsitzend­e? Weil: Er nervt mich überhaupt nicht. Es ist völlig in Ordnung, dass wir eine so lebendige Jugendorga­nisation haben. Das heißt aber nicht, dass ich den Jusos in allem recht gebe.

In der SPD wird oft ums Personal gestritten. Andrea Nahles steht zunehmend in der Kritik, Finanzmini­ster Olaf Scholz hat sich schon mal als Kanzlerkan­didat ins Spiel gebracht. Wie sehen Sie diese Diskussion­en? Weil: Wir haben 2019 eine ganze Reihe von Baustellen, die wir bearbeiten müssen. Personaldi­skussionen gehören sicher nicht dazu. Es ist viel zu früh, über mögliche Kanzlerkan­didaten zu sprechen. Bis zur nächsten Bundestags­wahl sind es noch mehr als zweieinhal­b Jahre.

Nicht wenige in der SPD wünschen sich ja Stephan Weil als Spitzenkan­didaten für die kommenden Bundestags­wahlen. Trauen Sie sich das Kanzleramt zu?

Weil: Ich fühle mich als Ministerpr­äsident von Niedersach­sen ausgesproc­hen wohl. Die Frage stellt sich mir deswegen nicht. Stephan Weil, 60, ist seit Februar 2013 Ministerpr­äsident von Niedersach­sen. Der Jurist war zuvor sieben Jahre lang Oberbürger­meister von Hannover. Er ist auch Chef der SPD in seinem Land.

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Foto: Joachim Sielski, dpa Stephan Weil will, dass die Sozialdemo­kratie wieder zum sozialen Gewissen des Landes wird. Dazu gehört der Kampf gegen Altersarmu­t und die Erhöhung des Spitzenste­uersatzes.

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