Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (29)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Da brauchte er dann nicht wie manche älteren Kollegen, die „mit der Zeit“gehen wollten, während sie in heimlicher Wut hinter ihr herkeuchten, den Verdacht der Augendienerei zu fürchten; ihm glaubte man die Zugehörigkeit, weil er auch den Mut hatte, sich von allem Zweideutigen und Verlogenen klipp und klar zu scheiden. Es fehlte ihm nur eines: der widerstandsfähige Körper. Er hatte zarte Nerven, war keiner Anstrengung gewachsen, und in den sonnenlosen Wintermonaten schlich er wie ein Schatten herum, verstimmt und arbeitsunlustig.
Schon lange gehörte Etzel Andergast zu den wenigen Bevorzugten, mit denen er persönlichen Umgang pflog. Manche Naturen haben einen Glanz wie frischpolierter Stahl, der eben aus Gottes Schmiede hervorgegangen ist. Sie gefallen durch ihre Neuheit und außerdem durch eine Art sublimer Zweckmäßigkeit, als ob mit ihnen etwas ganz Bestimmtes erreicht werden sollte. Das „Neue“an Etzel war ihm erst vor kurzem bewußt geworden. Es war etwa einen Monat her, daß er mit ihm eine Erörterung über ein peinliches Vorkommnis gehabt hatte. Karl Zehnter, der Sohn eines bankrotten Kaufmanns, hatte während der Turnstunde aus Etzels Jacke, die unter zahlreichen andern Kleidungsstücken hing, einen Fünfmarkschein entwendet. Es kam rasch heraus, der dicke Klaus Mohl hatte nämlich den Dieb beobachtet, und man fand alsbald das Geld in seiner Tasche. Anzeige war die Folge, und Zehntner wurde von der Schule relegiert. Etzel ging tagelang mit nagenden Skrupeln herum. Er hatte Zehntner ganz gut leiden können, er hielt ihn nicht für schlecht („nicht für schlechter als die Mehrzahl von uns“, wie er zu Robert Thielemann etwas schneidend äußerte), auch waren seine Eltern, wie man später erfuhr, in einer verzweifelten Lage. Er fand, daß er nicht gleich hätte Lärm schlagen müssen, daß man es unter sich hätte ausmachen, dem leichtsinnigen Jungen im Rat der Kameraden eine empfindli- che Buße hätte zudiktieren können, ohne seine Zukunft zu vernichten. Er fragte Camill Raff geradezu, ob er sich richtig benommen habe. Raff erwiderte, er könne nicht sehen, wie er sich anders hätte benehmen sollen, das angedeutete Schülergericht hätte schließlich nur zu Unzuträglichkeiten geführt. Dabei ließ er die Bemerkung fallen: „Sie müssen sich in acht nehmen, Andergast. Gewisse Lebensvorgänge werden durch einen zu ausgiebigen Gefühlsanteil verflacht. Gefühl ist eine Walzmaschine, es macht alles breit und weich.“Etzel stutzte. Das Wort erinnerte an die Leitsätze von Trismegistos und wirkte, von dieser Seite gehört, überraschend. Er sah sich entschieden verkannt. Das war nicht seine Gefahr. Er bildete sich ein, eher sei das Gegenteil seine Gefahr. Er schüttelte den Kopf und sprach nicht mehr von der Sache. Dem klugen Camill Raff war nicht geheuer zumut, wenn er an das Gespräch zurückdachte; er fürchtete, daß er bei diesem Jungen, der so nachträgerisch sein konnte, wie es nur die niedrigen und bisweilen die ganz hohen Charaktere sind, an Boden verloren hatte; er kam aber nicht gleich dahinter, worin er fehlgegriffen, bemühte sich auch wohl nicht übermäßig, es war zu schwer, den vielen Stimmen zu lauschen und vielen Forderungen gerecht zu werden, überdies noch mit der eigenen Existenz zu Rande zu kommen, gehemmtem Ehrgeiz, wirtschaftlicher Enge. Manchmal schwebte ihm das Gesicht des Jünglings vor, immer im Profil, emporgerichtet, kühn ihm Schnitt, trotzig in der Linie, ohne triviale Weichheit, und es dämmerte ihm, daß er sich mit seinem Ausspruch geirrt haben könnte. Heute wurde es ihm zur Gewißheit, in den ersten fünf Minuten schon. Der Knabe war auffallend verändert, in einem andern Sinn, als er neulich in seiner Mahnung an Thielemann festgestellt hatte; vielleicht war sogar etwas unverschämt Überlegenes in ihm, das sich mokierte über die Herren Lehrer, die ihm stirnfaltend eine schlechte Zensur erteilten.
Aber was ist mit ihm vorgegangen? Ihn auszuholen ist eine Aufgabe. Er ist schlau und reserviert. Camill Raff will ihn nicht einschüchtern und tastet sich über Glatteis. Als endlich mit seinem sokratischen Beistand der Knabe sich zu einigen Kundgebungen entschließt, hütet er sich zunächst vor Mißbilligung wie vor Einschränkung. Erforderlich sei, sich mit den Dingen geistig auseinanderzusetzen; Stellungnahme, Auswägung, Gewichtsbestimmung. Im Falle des Handelns dann: intellektuelles Erfassen, methodische Allmählichkeit. „Ja, schon“, sagt Camill Raff und zügelt eine Regung der Ironie, „gewiß, gewiß.“Er laviert noch ziemlich hoffnungslos. Unmöglich, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wenn man nicht imstande ist, die Leidenschaft auszuschalten, läßt sich Etzel mit der Miene eines in allen Stürmen des Denkens gestählten Analytikers vernehmen (er ist wieder einmal ganz „erleuchteter Zwerg“). „Freilich“, gibt Dr. Raff ein wenig geängstigt zu und legt die Hand auf Etzels Schulter, als wolle er ihn von einem waghalsigen Sprung zurückhalten, „freilich. Damit erspart man sich Ungelegenheiten, vor allem erspart man sich das Unvorhergesehene. Ein ausgezeichnetes Mittel, den Phantomen aus dem Weg zu gehen. Es dringt immer mehr in euch ein, das Dialogische, das Dialektische, und infolgedessen kommt auch etwas – wie nenn ich’s nur? –, etwas Uneinsames in euch. Ja, ich will es so nennen: das Uneinsame. Aber dieses, das Uneinsame, ist zugleich das Gewissenlose. Ich meine, von einem großen Standpunkt aus. Indem die Verantwortungen kumuliert werden. Indem die Urheber einer Tat in der Masse verschwinden. Doch das wäre ja nicht schlimm. Anonymität ist in vielem Betracht was Schönes. Aber sehen Sie, Andergast, das Gewissen hängt wieder mit dem Wissen zusammen, mit einer besonderen Art von Wissen, also auch mit Urteil und Gesetz; die Sprache ist ja so tief, so weise… und wer will es ergründen, was an Gewissen notwendig ist, um zu handeln!… es sind da unzugängliche Schächte …“„ Er schwieg, erschrocken über den funkelnd-begierigen Blick des Knaben. Der „waghalsige Sprung“, es war offenbar der Sprung ins Eiskalte. Nicht alle Organismen vertragen das Eiskalte, besonders den jähen Übergang nicht, dachte Camill Raff, durch Etzels Wesen in Spannung versetzt, sie leben ja nun alle mit dem Kopf, sie beschließen es wenigstens, es ist die offizielle Devise, wenn man will. Deshalb wohl hat ihn das neulich so verdrossen, der Vorwurf wegen Gefühlsüberschuß, das ist des Rätsels Lösung. Schön, schön, schön, besser, als ohne Kopf zu leben, besser, als mit dem Aufwand verbrauchter und verwässerter Gefühle, lauter Literatur, womit noch meine Generation glaubte, wunder wie fortgeschritten zu sein. Wir haben es nicht sehr weit gebracht mit der Politik des Herzens, das ist wahr; das sogenannte Herz ist zum zahlungsunfähigen Schuldner geworden. Diese Jugend mit ihrer Methodik, mit ihrer „geistigen Auseinandersetzung“, mit ihrer „Stellungnahme“– scheußliches Wort –, sie haben uns einstweilen gehandicapt, wie sie sagen, und wir müssen froh sein, wenn sie noch einen Bissen Brot von uns nehmen.