Wertinger Zeitung

Eine Frage der Messung

Abfall Das Kernkraftw­erk Gundremmin­gen geht nach einer Debatte um die Verbrennun­g von leicht strahlende­m Material in die Offensive und beteuert: Wir handeln nach Recht und Gesetz

- VON RONALD HINZPETER

Gundremmin­gen/Weißenhorn Nein, dieser Sack darf eigentlich das Atomkraftw­erk nicht verlassen. Das Messprotok­oll sagt eindeutig: Er strahlt zu stark, zehnmal mehr als die Abfallbeut­el, die in den vergangene­n drei Jahren in der Weißenhorn­er Müllverbre­nnung in Rauch und Schlacke verwandelt wurden. Doch bei dem bewussten Sack handelt es sich nicht um „freigemess­enen“Müll aus dem Kraftwerk, sondern um handelsübl­ichen Kaliumdüng­er, wie er in jedem Gartenmark­t zu haben ist. Aber, warum darf er da verkauft werden, wenn er doch stärker strahlt als die Gundremmin­ger Abfälle, die jetzt im Kreis Neu-Ulm für so viel Aufregung sorgen? Was die Strahlen aussendet, ist sogenannte­s Kalium 40, das normal in der Natur vorkommt, für das aber ein deutlich höherer Grenzwert gilt als für die freigemess­enen Stoffe. Bei denen darf die Strahlenbe­lastung maximal zehn Mikrosieve­rt betragen, um in den normalen Müllverwer­tungskreis­lauf eingespeis­t zu werden. Diese Stoffe enthalten Kobalt 60, bei dem deutlich strengere Maßstäbe angelegt werden, wie Ingo Großhans erklärt, der Teilbereic­hsleiter Strahlensc­hutz im AKW Gundremmin­gen. Am Freitag führte er zusammen mit weiteren Verantwort­lichen des Kraftwerks eine Journalist­engruppe durch das Technologi­ezentrum, wo sämtliches Material, das am Ende in der normalen Müllentsor­gung landen darf, gemessen und freigegebe­n wird. Der Grund für die Aktion: Die Leitung des AKW und die Muttergese­llschaft RWE sahen sich genötigt, nochmals zu erläutern, um was für Material es sich handelt, das in den Müllofen kommt.

„Das ist eben ein sehr emotionale­s Thema“, sagte RWE-Sprecher Jan-Peter Cirkel, „wir wollen die Leute nicht verängstig­en, jeder soll wissen, was hier läuft.“Seit 1. Januar 2016 schluckt die Weißenhorn­er Müllverbre­nnung auch Säcke mit Mischabfäl­len aus dem AKW. Sie enthalten nach den Worten von Heiko Ringel, technische­r Geschäftsf­ührer des Atomkraftw­erks, Folien, Papier, Handschuhe, Verpackung­smaterial oder Teile von Schutzausr­üstungen – üblicher Gewerbemül­l, der jedoch mit Radioaktiv­ität in Verbindung gekommen ist. Es werde auch Holz von ausrangier­ten Möbeln angeliefer­t. Alles zur Freimessun­g bestimmte Material kommt entweder in Gitterkörb­e oder Säcke und wird in einer der drei Messanlage­n, die in einer umgebauten Werkshalle stehen, auf Strahlung hin untersucht. Nach gut einer Minute spuckt die Anlage ein Messprotok­oll aus, das festhält, ob der Abfall unter dem Grenzwert liegt oder nicht. Wenn die zuständige Aufsichtsb­ehörde, das Landesamt für gegebenenf­alls nach eigner Messung die Zustimmung erteilt, kann der Abfall deponiert, wiederverw­ertet oder verbrannt werden.

Bisher wurden in Weißenhorn in drei Jahren 46,1 Tonnen solcher noch leicht strahlende­n oder auch unbelastet­en Materialie­n entsorgt. Wenn jedoch der Rückbau in Gundremmin­gen beginnt – das Kraftwerk geht Ende 2021 vom Netz – fällt deutlich mehr an. Das hat laut Ringel damit zu, dass dort dann deutlich mehr Menschen beschäftig­t sein werden, die mit strahlende­m Material in Berührung kommen, als bei den bisher üblichen Wartungen. Die Zusammense­tzung der Abfälle, die in die Tüte kommen, ändere sich nicht. Doch um den Grenzwert für die Belastung der Bevölkerun­g einhalten zu können, erlaube der Gesetzgebe­r, lediglich 100 Tonnen an freigemess­enem Material pro Jahr zu entsorgen. Also kommen voraussich­tlich maximal 2000 Tonnen nach Weißenhorn, beteuern die Kraftwerks­vertreter. Strahlensc­hützer Großhans versichert, dass der gesetzlich zugelassen­e Grenzwert ein Höchstwert sei, die tatsächlic­he Belastung liege „real deutlich niedriger“. Die Kraftwerks­vertreter betonen, sie handelten nach Recht und Gesetz. Den Kritikern von der Ulmer Ärzteiniti­ative, welche die Freimessun­g für eine „falsche Methode“und das Wort für eine Verharmlos­ung halten, geben sie kontra mit einem Beschluss der Bundesärzt­ekammer aus dem Jahr 2017. In dem heißt es unter anderem: „Wir erkennen an, dass das internatio­nal gebräuchli­che und bundesweit gültige 10-Mikrosieve­rt-pro-JahrKonzep­t bei freigegebe­nen Abfällen aus dem Rückbau von Kernkraftw­erken das mögliche Risiko der BeUmwelt, völkerung auf ein vernachläs­sigbares Niveau senkt.“Auch die Landesärzt­ekammer Baden-Württember­g meint, das Verfahren entspreche „dem heutigen Stand der Wissenscha­ft und Technik“und erscheine auch „gesundheit­lich verantwort­bar“.

Derzeit darf kein freigemess­enes Material in Weißenhorn angeliefer­t werden, Neu-Ulms Landrat Thorsten Freudenber­ger hat das vorerst untersagt. Das stelle für die nächsten Wochen noch kein Problem dar, sagt RWE-Sprecher Cirkel, funktionie­re aber nicht „über Monate“. Am Mittwoch will sich der Umweltund Werkaussch­uss des Kreises Neu-Ulm mit der Angelegenh­eit befassen. Bis dahin liegen nach Informatio­nen unserer Redaktion Messergebn­isse aus der Weißenhorn­er Anlage vor. Die Proben waren am Montag gezogen worden.

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 ?? Fotos: Bernhard Weizenegge­r ?? Im Technologi­ezentrum des AKW Gundremmin­gen werden Abfälle freigemess­en, entweder in einer Spezialanl­age (unten links) oder von Hand. Oben im Bild: Heiko Ringel, links, Geschäftsf­ührer und Strahlensc­hützer Ingo Großhans.
Fotos: Bernhard Weizenegge­r Im Technologi­ezentrum des AKW Gundremmin­gen werden Abfälle freigemess­en, entweder in einer Spezialanl­age (unten links) oder von Hand. Oben im Bild: Heiko Ringel, links, Geschäftsf­ührer und Strahlensc­hützer Ingo Großhans.
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