Wertinger Zeitung

„Manche Kurse laufen seit Jahrzehnte­n“

Interview Die Volkshochs­chulen feiern 100. Geburtstag. Unterschie­dlichste Menschen werden dort Freunde. Das Leben des Wahl-Memmingers Michael Trieb prägte die VHS auf besondere Weise

- Wie meinen Sie das? Interview: Sarah Ritschel

Trieb: Ja, und genau das ist es, was die Volkshochs­chule ausmacht. Sie separiert nicht, sie bringt Menschen zusammen. In allen Altersgrup­pen, aus allen sozialen Schichten. Man trifft in den Kursen Gleichgesi­nnte und Leute, die anders denken, aber mit denen man sich genauso auseinande­rsetzen kann. Manche Kurse bestehen über Jahrzehnte, Freundscha­ften sind entstanden. Die Volkshochs­chule lehrt nicht nur, sie ist ein sozialer Treffpunkt – auch wenn manche Städte und Gemeinden das lange nicht erkannt haben.

Trieb: Man darf die VHS nicht auf ihre Kurse reduzieren. Die Teilnehmer wollen sich zusammense­tzen, diskutiere­n. Man braucht einen Bereich, in dem man Kontakte knüpfen kann. Aber darauf sind die Räume, die manche Städte und Kommunen bereitstel­len, nicht immer ausgericht­et. Das muss sich ändern. über die Kurse in die Gesellscha­ft integriere­n. Ohne VHS wären Städte und Landkreise ärmer. Trieb: Nach dem Krieg haben die Kurse Menschen beim alltäglich­en Überleben geholfen. Man musste ja ganz neue Strukturen aufbauen. Die Leute haben gelernt, wie man aus Kisten neue Regale baut – Dinge, die sie im Alltag brauchen konnten. Sie lernten die Sprachen der Besatzungs­mächte, Russisch, Französisc­h, Englisch. Die Alliierten haben schnell erkannt, dass die im Nationalso­zialismus verbotenen Volkshochs­chulen ein perfektes Mittel waren, um die Gesellscha­ft wieder zu demokratis­ieren. seit ich fünf Jahre alt bin. Meine Mutter ist heute 82. An der VHS Mindelheim und in Memmingen gibt sie bis heute Yoga-Kurse. Anfang der Achtziger kam die Discowelle auf – und plötzlich waren ganze Turnhallen belegt mit Menschen, die an der VHS Callanetic­s gemacht haben. Das ist ein Programm, bei dem durch wiederholt­e Bewegungen der Körper gestrafft werden soll. Trieb: Stimmt, die Privaten waren noch nicht da. Es gab die Vereine und die VHS. In den Achtzigern sind die Volkshochs­chulen besonders stark gewachsen – auch im kreativen Bereich. Man hat Strickkurs­e angeboten, Malkurse, in Mindelheim sogar Spinnräder angeschaff­t. Das hängt uns heute noch ein bisschen nach. Manche Politiker reduzieren uns auf solche Angebote. aber auch die Welt zu verstehen und sich sicher in der Gesellscha­ft zu bewegen. Die Herausford­erungen heute sind natürlich andere als vor 70 oder 100 Jahren. Trieb: Wer die Welt einfach erklärt, ist im Vorteil – vor allem heute, wo man sich den Durchblick hart erarbeiten muss. Der Rattenfäng­er von Hameln hat die Welt einfach erklärt. Heute gibt es viele Rattenfäng­er, gerade in der Politik. Wir wollen dem mit Wissen entgegentr­eten. Wenn jemand zur Verfassung stehen soll, muss er erst einmal wissen: Was ist die Verfassung? Und wir wollen Menschen zu einer eigenen Position bringen, die nicht abhängig ist von einer Ideologie, einer Religion oder einer Partei. Wir wollen ihnen zeigen, dass man selber denken darf.

 ?? Foto: VH Ulm ?? Nach 1919 gab es 1946 die zweite große VHS-Gründungsw­elle. Damals eröffnete die VHS in Memmingen. In Ulm war Inge Aicher-Scholl (Mitte) die erste VHS-Leiterin. Sie ist die Schwester der Widerstand­skämpfer Sophie und Hans Scholl.
Foto: VH Ulm Nach 1919 gab es 1946 die zweite große VHS-Gründungsw­elle. Damals eröffnete die VHS in Memmingen. In Ulm war Inge Aicher-Scholl (Mitte) die erste VHS-Leiterin. Sie ist die Schwester der Widerstand­skämpfer Sophie und Hans Scholl.

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