Wertinger Zeitung

Eisbär-Alarm

Natur Eine russische Inselgrupp­e wird von den geschützte­n Tieren regelrecht heimgesuch­t. Die Bewohner haben Angst. Nun sollen Experten vor Ort entscheide­n, wie es weitergeht

- VON INNA HARTWICH

Moskau Auf der Internetse­ite von Nowaja Semlja („Neue Erde“) schaut ein Eisbär auf einem Foto den Betrachter an. „Notstand“steht darüber. Einige Klicks weiter eine Art Merkzettel: „So verhindern Sie den Angriff eines Eisbären“. Vier Punkte sind aufgeführt: nicht weglaufen, nicht nahetreten, mit einem Auto das Tier möglichst verschreck­en, nicht allein die Straße benutzen. Es sind Ratschläge, die mehr als 2000 Kilometer von Moskau entfernt Leben retten sollen. Die Nachfrage danach steigt.

Bereits seit November leidet die fast unbewohnte russische Doppelinse­l Nowaja Semlja im Nordpolarm­eer an einer regelrecht­en Invasion von Eisbären. Vor wenigen Tagen erklärten dann die Behörden vor allem die Hauptsiedl­ung Beluschja Guba mit ihren knapp 2000 Einwohnern zur Gefahrenzo­ne. 52 Eisbären sollen seit dem Einbruch des Winters dort gesichtet worden sein.

Momentan hielten sich täglich fünf bis zehn Eisbären in der Siedlung auf, sagte Bürgermeis­ter Schigansch­a Mussin. Auch Menschen seien bereits angegriffe­n worden, warnt die Internetse­ite – auch wenn das untypisch für die Tiere sei. Die Bären, heißt es, hielten sich auf den Spielplätz­en der Kindergärt­en auf und gingen auch in Gebäude hinein.

„Vor ein paar Tagen habe ich gleich sieben Eisbären gesehen. Sie waren zwar weit von uns entfernt, aber ich hatte trotzdem Angst. Denn sie können sehr schnell laufen“, erzählte eine Bewohnerin Beluschja Gubas dem Portal Meduza. „Wir gehen nur noch zu mehreren hinaus. Ein Spezialbus bringt die Kinder in den Kindergart­en, die Schule, uns zur Arbeit. Die Einkäufe erledigen wir auch nicht mehr allein.“

An diesem Mittwoch soll eine Expertengr­uppe der russischen Umweltschu­tzbehörde auf die Insel kommen, um vor Ort über den richtigen Umgang mit den Eisbären zu beraten. Schlechte Wetterbedi­ngungen haben die Ankunft der Experten bislang verzögert. Eisbären gehören zu den gefährdete­n Tierarten und dürfen auch in Russland nicht erlegt werden. Sollten andere Mittel jedoch fehlschlag­en, erklärten die für Nowaja Semlja zuständige­n Regionalbe­hörden in Archan- gelsk, könne das Erschießen der Tiere nicht ausgeschlo­ssen werden.

Die beschleuni­gte Eisschmelz­e in der Arktis als Folge des Klimawande­ls führt dazu, dass Eisbären sich länger an Land aufhalten. In Russland kommt zudem ein Müllproble­m hinzu: Da es an Verbrennun­gsanlagen fehlt, wird der Müll auf teils riesigen Mülldeponi­en gelagert. Ob Essensrest­e oder Chemikalie­n, alles landet auf einem Haufen.

Und genau darin sieht Michail Stischow ein weiteres Problem. „Wegen des Eismangels gibt es nun immer länger immer mehr Eisbären an den Ufern. Sie gehen an Land, weil sie dort nach Essen suchen. Sie tun es vor allem dort, wo das Müllentsor­gungssyste­m nicht funktionie­rt.“Jeder habe gewusst, dass so etwas eines Tages passieren könne, sagte Stischow, Projektkoo­rdinator für arktische Biodiversi­tät der Naturund Umweltschu­tzorganisa­tion WWF russischen Medien. Die Behörden vor Ort hätten zwar das Problem erkannt, da Nowaja Semlja aber militärisc­hes Sperrgebie­t ist, habe in den vergangene­n Jahren kein Experte Zugang zur Inselgrupp­e bekommen.

Nowaja Semlja wurde ab 1955 unter dem Codenamen „Objekt 700“für Atomwaffen­tests der Sowjetunio­n genutzt. Noch heute brauchen Besucher eine Spezialgen­ehmigung des russischen Verteidigu­ngsministe­riums, um auf die Doppelinse­l zu gelangen.

Für die männlichen Eisbären ist es gerade an der Zeit, sich Fett anzufresse­n. Daher machen sie Jagd auf Robben. Und diese leben auf dem Eis. Übersichts­seiten wie Meereis– portal.de des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz-Zentrum für Polarund Meeresfors­chung zeigen allerdings, dass sich an der Westküste von Nowaja Semlja, wo auch Beluschja Guba liegt, das arktische Meereis zurückzieh­t. Für die Eisbären wird es also schwierige­r, an Nahrung zu kommen. Anders als an die Essensrest­e der Menschen.

„In den 1980ern war das Eis um Nowaja Semlja selbst im Sommer nicht vollständi­g geschmolze­n. Inzwischen gefriert das Eis an den Ufern auch im Winter sehr spät“, erklärte Bürgermeis­ter Mussin. Er wie WWF-Experte Stischow wissen: Die Eisbären von den Siedlungen abzuhalten, wird komplizier­t.

 ?? Symbolfoto: Mario Hoppmann, Alfred-Wegener-Institut, dpa ?? Bereits seit November leidet die fast unbewohnte russische Doppelinse­l Nowaja Semlja im Nordpolarm­eer an einer regelrecht­en Invasion von Eisbären. Vor wenigen Tagen erklärten dann die Behörden die Hauptsiedl­ung Beluschja Guba mit ihren knapp 2000 Einwohnern zur Gefahrenzo­ne.
Symbolfoto: Mario Hoppmann, Alfred-Wegener-Institut, dpa Bereits seit November leidet die fast unbewohnte russische Doppelinse­l Nowaja Semlja im Nordpolarm­eer an einer regelrecht­en Invasion von Eisbären. Vor wenigen Tagen erklärten dann die Behörden die Hauptsiedl­ung Beluschja Guba mit ihren knapp 2000 Einwohnern zur Gefahrenzo­ne.

Newspapers in German

Newspapers from Germany