„Es herrscht oft blanke Arroganz“
Interview Masern werden immer wieder unterschätzt, sagt der Kinderarzt Dr. Christian Voigt. Er befürchtet, dass es zu Epidemien kommt, wenn nichts geschieht. Wie gefährlich die Viren sind
Herr Voigt, Sie sind Obmann des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte für Augsburg und Nordschwaben und haben viel mit dem Thema Impfen zu tun. Sind die Eltern gut aufgeklärt oder gibt es Nachholbedarf? Dr. Christian Voigt: Die Eltern, die ich seit zwölf Jahren betreue, sind gut aufgeklärt. Ich habe mir viele Jahre große Mühe gegeben, auf die Vorteile des Impfens hinzuweisen. Aber: Ich treffe auch viele andere Patienten, etwa wenn ich Vertretung in der Bereitschaftspraxis mache, bei denen oft blanke Arroganz und Borniertheit gegenüber den Fakten herrscht. Das Problem ist, dass man mit diesen Menschen nur sehr schwer ins Gespräch kommen kann. Es ist erschreckend, dass wir in einem aufgeklärten Zeitalter leben, aber manche Eltern sich durch stumpfe Ängste leiten lassen. Dann gibt es zusätzlich ein massives Unwissen. Ich hatte erst ein Elterngespräch, in dem der Vater Bakterien mit Viren verwechselt hat.
Was sind die Sorgen der Eltern, die ihr Kind nicht impfen lassen wollen? Voigt: Es ist ein diffuses Gefühl von Angst, das sie aber nur schwer erklären können. Es ist eine einseitige Sichtweise, die sich nur auf Begleitstoffe der Impfungen bezieht, die nicht in den Körper hineinsollen. Dabei übersehen sie den sehr positiven Effekt für ihr Kind und die Allgemeinheit. Ich habe sieben Jahre auf einer Kinder-Intensivstation gearbeitet und habe dort furchtbarste Krankheiten gesehen. Ich habe Kinder sterben sehen, deren Tod durch eine Impfung sehr wahrscheinlich hätte vermieden werden können. Diese Bilder verlassen mich nicht. Darum ist es für mich kaum auszuhalten, dass Menschen so leichtsinnig mit dem Leben umgehen.
Ist es so, dass manche Krankheiten wie etwa die Masern verharmlost werden? Voigt: Ja, auf alle Fälle. Man sagt, Masern seien nur wie eine leichte Erkältung. Und dann kommt auch immer wieder dieses Märchen hervor, dass das Kind nach dieser Erkrankung gestärkt sei und einen Sprung in der Entwicklung machen würde. Das stimmt natürlich nicht. Im Gegenteil: Die Kinder sind nach einer Maserninfektion für ein halbes Jahr anfälliger für viele andere Infektionen.
Welche schlimmen Komplikationen können bei Masern auftreten?
Voigt: Kinder können eine Lungenentzündung, eine schwere Mittelohrentzündung oder eine Gehirnhautentzündung bekommen. Im schlimmsten Fall kann es nach Jahren zum Ausbruch der sogenannten SSPE, der subakuten sklerosierenden Panenzephalitis, kommen. Das heißt, das Gehirn wird komplett zerstört und der Patient stirbt. Dagegen gibt es keine Therapie.
Die Gretchenfrage ist nun: Muss es eine Impfpflicht gegen Masern geben? Voigt: Ich bin eigentlich ein Freund von Aufklärungen, das heißt, dass ich die Patienten mit nachvollziehbaren, wissenschaftlichen Argumenten mitnehme. Aber es ist leider so, dass es Menschen gibt, die einfach nur auf Widerstand schalten. Wir merken seit einiger Zeit einen Gegenwind, der sehr bedenklich ist. Angefeuert wird das durch das Internet. Unterm Strich bin ich deshalb mittlerweile für eine Impfpflicht für Kinder, die Gemeinschaftseinrichtungen besuchen wol- len, weil wir die Eltern teilweise nicht erreichen.
Bei der Impfrate von Masern liegt Deutschland nach wie vor unter der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation. Muss man sich Sorgen machen, dass es wieder mehr MasernEpidemien geben wird?
Voigt: Auf alle Fälle. Wir hatten in den letzten Jahren immer wieder kleinere Epidemien. 2013 hatten wir die größte in Berlin mit 3500 Erkrankten. Das waren vorwiegend Erwachsene, aber auch 75 Säuglinge, die noch nicht geimpft werden konnten, denn das geht erst ab elf Monaten. Diese Kinder haben nun das Risiko, die SSPE zu bekommen – und zu sterben.
Wie ansteckend sind Masern?
Voigt: Sehr. Wenn ein infektiöser Mensch hustet, dann werden sich alle anderen im Raum anstecken, die keine Antikörper dagegen haben.
Wir hatten ja schon über die Ängste von Impfgegnern gesprochen. Was kann bei einer Impfung denn schiefgehen und wie oft kommt das vor? Voigt: Die meisten Impfungen gehen „geräuschlos“vorbei, manchmal gibt es eine leichte Schwellung an der Einstichstelle, allgemeines Unwohlsein oder Fieber für einen kurzen Zeitraum. Im schlimmsten Fall kann man einen Kreislaufkollaps bekommen, wie bei einer Blutentnahme auch. Allergische Reaktionen gibt es prinzipiell auch, aber ich habe noch nie eine beobachtet. Im Vordergrund muss aber die positive Bedeutung stehen: Impfen schützt. Impfen nützt. Und zwar nicht nur den Geimpften, sondern auch den Mitmenschen. Ein weiterer positiver Effekt ist, dass die Gabe von Antibiotika – und damit das Heranzüchten von Resistenzen – deutlich eingeschränkt wird. Das klassische Beispiel ist etwa die Lungenentzündung. Seit Einführung der Pneumokokken-Impfung in der Kinderheilkunde ist die Erkrankung, die sonst mit Antibiotika behandelt werden musste, drastisch zurückgegangen. Und es gibt noch einen weiteren positiven Aspekt des Impfens: Man kann sich nicht nur vor den Krankheiten schützen, gegen die man geimpft wird, sondern auch gegen andere.
Können Sie das bitte erklären?
Voigt: Man hat festgestellt, dass Kinder, die gegen Rotaviren geimpft sind, deutlich seltener einen Typ1-Diabetes entwickeln als ungeimpfte Kinder. Denn Rotaviren können einen negativen „Fußabdruck“im Organismus hinterlassen, sodass das Immunsystem sich gegen die eigenen, insulinbildenden Zellen wenden kann. Im Verlauf kommt es zu Diabetes. Manchmal schon bei Kindern ab zwei Jahren. Und das ist sehr belastend. Man überlegt sogar weiter, ob man einen neuen Impfstoff gegen einen anderen Durchfallvirus entwickeln sollte, der ebenfalls im Verdacht steht, Typ-1-DiabetesErkrankungen zu verursachen. Impfen ist ein sehr komplexes Thema. Deswegen bin ich auch so „allergisch“gegen stumpfe Vereinfachungen.