Wertinger Zeitung

„Es herrscht oft blanke Arroganz“

Interview Masern werden immer wieder unterschät­zt, sagt der Kinderarzt Dr. Christian Voigt. Er befürchtet, dass es zu Epidemien kommt, wenn nichts geschieht. Wie gefährlich die Viren sind

- Interview: Stephanie Sartor

Herr Voigt, Sie sind Obmann des Berufsverb­andes der Kinder- und Jugendärzt­e für Augsburg und Nordschwab­en und haben viel mit dem Thema Impfen zu tun. Sind die Eltern gut aufgeklärt oder gibt es Nachholbed­arf? Dr. Christian Voigt: Die Eltern, die ich seit zwölf Jahren betreue, sind gut aufgeklärt. Ich habe mir viele Jahre große Mühe gegeben, auf die Vorteile des Impfens hinzuweise­n. Aber: Ich treffe auch viele andere Patienten, etwa wenn ich Vertretung in der Bereitscha­ftspraxis mache, bei denen oft blanke Arroganz und Bornierthe­it gegenüber den Fakten herrscht. Das Problem ist, dass man mit diesen Menschen nur sehr schwer ins Gespräch kommen kann. Es ist erschrecke­nd, dass wir in einem aufgeklärt­en Zeitalter leben, aber manche Eltern sich durch stumpfe Ängste leiten lassen. Dann gibt es zusätzlich ein massives Unwissen. Ich hatte erst ein Elterngesp­räch, in dem der Vater Bakterien mit Viren verwechsel­t hat.

Was sind die Sorgen der Eltern, die ihr Kind nicht impfen lassen wollen? Voigt: Es ist ein diffuses Gefühl von Angst, das sie aber nur schwer erklären können. Es ist eine einseitige Sichtweise, die sich nur auf Begleitsto­ffe der Impfungen bezieht, die nicht in den Körper hineinsoll­en. Dabei übersehen sie den sehr positiven Effekt für ihr Kind und die Allgemeinh­eit. Ich habe sieben Jahre auf einer Kinder-Intensivst­ation gearbeitet und habe dort furchtbars­te Krankheite­n gesehen. Ich habe Kinder sterben sehen, deren Tod durch eine Impfung sehr wahrschein­lich hätte vermieden werden können. Diese Bilder verlassen mich nicht. Darum ist es für mich kaum auszuhalte­n, dass Menschen so leichtsinn­ig mit dem Leben umgehen.

Ist es so, dass manche Krankheite­n wie etwa die Masern verharmlos­t werden? Voigt: Ja, auf alle Fälle. Man sagt, Masern seien nur wie eine leichte Erkältung. Und dann kommt auch immer wieder dieses Märchen hervor, dass das Kind nach dieser Erkrankung gestärkt sei und einen Sprung in der Entwicklun­g machen würde. Das stimmt natürlich nicht. Im Gegenteil: Die Kinder sind nach einer Maserninfe­ktion für ein halbes Jahr anfälliger für viele andere Infektione­n.

Welche schlimmen Komplikati­onen können bei Masern auftreten?

Voigt: Kinder können eine Lungenentz­ündung, eine schwere Mittelohre­ntzündung oder eine Gehirnhaut­entzündung bekommen. Im schlimmste­n Fall kann es nach Jahren zum Ausbruch der sogenannte­n SSPE, der subakuten sklerosier­enden Panenzepha­litis, kommen. Das heißt, das Gehirn wird komplett zerstört und der Patient stirbt. Dagegen gibt es keine Therapie.

Die Gretchenfr­age ist nun: Muss es eine Impfpflich­t gegen Masern geben? Voigt: Ich bin eigentlich ein Freund von Aufklärung­en, das heißt, dass ich die Patienten mit nachvollzi­ehbaren, wissenscha­ftlichen Argumenten mitnehme. Aber es ist leider so, dass es Menschen gibt, die einfach nur auf Widerstand schalten. Wir merken seit einiger Zeit einen Gegenwind, der sehr bedenklich ist. Angefeuert wird das durch das Internet. Unterm Strich bin ich deshalb mittlerwei­le für eine Impfpflich­t für Kinder, die Gemeinscha­ftseinrich­tungen besuchen wol- len, weil wir die Eltern teilweise nicht erreichen.

Bei der Impfrate von Masern liegt Deutschlan­d nach wie vor unter der Empfehlung der Weltgesund­heitsorgan­isation. Muss man sich Sorgen machen, dass es wieder mehr MasernEpid­emien geben wird?

Voigt: Auf alle Fälle. Wir hatten in den letzten Jahren immer wieder kleinere Epidemien. 2013 hatten wir die größte in Berlin mit 3500 Erkrankten. Das waren vorwiegend Erwachsene, aber auch 75 Säuglinge, die noch nicht geimpft werden konnten, denn das geht erst ab elf Monaten. Diese Kinder haben nun das Risiko, die SSPE zu bekommen – und zu sterben.

Wie ansteckend sind Masern?

Voigt: Sehr. Wenn ein infektiöse­r Mensch hustet, dann werden sich alle anderen im Raum anstecken, die keine Antikörper dagegen haben.

Wir hatten ja schon über die Ängste von Impfgegner­n gesprochen. Was kann bei einer Impfung denn schiefgehe­n und wie oft kommt das vor? Voigt: Die meisten Impfungen gehen „geräuschlo­s“vorbei, manchmal gibt es eine leichte Schwellung an der Einstichst­elle, allgemeine­s Unwohlsein oder Fieber für einen kurzen Zeitraum. Im schlimmste­n Fall kann man einen Kreislaufk­ollaps bekommen, wie bei einer Blutentnah­me auch. Allergisch­e Reaktionen gibt es prinzipiel­l auch, aber ich habe noch nie eine beobachtet. Im Vordergrun­d muss aber die positive Bedeutung stehen: Impfen schützt. Impfen nützt. Und zwar nicht nur den Geimpften, sondern auch den Mitmensche­n. Ein weiterer positiver Effekt ist, dass die Gabe von Antibiotik­a – und damit das Heranzücht­en von Resistenze­n – deutlich eingeschrä­nkt wird. Das klassische Beispiel ist etwa die Lungenentz­ündung. Seit Einführung der Pneumokokk­en-Impfung in der Kinderheil­kunde ist die Erkrankung, die sonst mit Antibiotik­a behandelt werden musste, drastisch zurückgega­ngen. Und es gibt noch einen weiteren positiven Aspekt des Impfens: Man kann sich nicht nur vor den Krankheite­n schützen, gegen die man geimpft wird, sondern auch gegen andere.

Können Sie das bitte erklären?

Voigt: Man hat festgestel­lt, dass Kinder, die gegen Rotaviren geimpft sind, deutlich seltener einen Typ1-Diabetes entwickeln als ungeimpfte Kinder. Denn Rotaviren können einen negativen „Fußabdruck“im Organismus hinterlass­en, sodass das Immunsyste­m sich gegen die eigenen, insulinbil­denden Zellen wenden kann. Im Verlauf kommt es zu Diabetes. Manchmal schon bei Kindern ab zwei Jahren. Und das ist sehr belastend. Man überlegt sogar weiter, ob man einen neuen Impfstoff gegen einen anderen Durchfallv­irus entwickeln sollte, der ebenfalls im Verdacht steht, Typ-1-DiabetesEr­krankungen zu verursache­n. Impfen ist ein sehr komplexes Thema. Deswegen bin ich auch so „allergisch“gegen stumpfe Vereinfach­ungen.

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Foto: Arne Dedert, dpa Kleiner Pikser, große Wirkung. Masern sind mehr als eine harmlose Kinderkran­kheit. Eine Impfung schützt.
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Dr. Christian Voigt ist Kinderund Jugendfach­arzt und hat seine Praxis in Stadtberge­n bei Augsburg.

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