Wertinger Zeitung

Verrückte Zeiten

Gesellscha­ft Die EU sagt: Schluss mit der Zeitumstel­lung. Weil die Menschen das so wollen. Aber wissen wir eigentlich, was wir da fordern? Eine Geschichte über lange Januar-Abende auf der Terrasse, einen Zeitforsch­er ohne Uhr und die alles entscheide­nde F

- VON SONJA KRELL, ANDREAS FREI UND DETLEF DREWES

München/Brüssel Das muss man erst mal sacken lassen. Da befasst sich einer von Berufs wegen mit der Zeit, nennt sich sogar Zeitforsch­er – und trägt dann nicht mal eine Uhr. Seit Jahrzehnte­n hält Karlheinz Geißler, 74, das so. Auch in seinem Haus im Münchner Stadtteil Perlach hängt keine. Geißler, der Zeitforsch­er, sagt: „Man kommt in dieser Welt ja nicht ohne Uhr aus. Auf jedem Display ist eine, auf dem Computer. Die Frage ist nur, ob man eine trägt und sich selbst davon abhängig macht.“

Es sind Sätze, die nachhallen. Auch wenn Geißler sagt: „Ich richte mein Leben nach den Zeitsignal­en, die mir die Natur und mein Körper vorgeben. Das ist eine völlig andere Zeit.“Nur, wie wacht man ohne Wecker auf? Wie hält man seine Termine ohne Uhr ein? Geißler lacht. Er steht eben auf, wenn es hell wird, sagt er. Isst, wenn er Appetit hat. In den 30 Jahren, in denen er als Wirtschaft­spädagoge an der Bundeswehr-Universitä­t München lehrte, sagte ihm seine Sekretärin, wann er zur Vorlesung muss. Und wenn die Studenten nervös auf die Uhr sahen, dann war eben Schluss.

Das mag ja alles gut klingen: Biorhythmu­s statt Uhrzeiger, innere Uhr statt Pünktlichk­eitsdruck. Nur: Was bringt das, wenn die Realität eine andere ist? Wenn, wie kommendes Wochenende, die Uhr um eine Stunde vorgestell­t wird – wo doch längst Schluss sein könnte mit diesem Zinnober? „Von oben angeordnet­e Zeigermani­pulation“nennt Geißler das. Einen wie ihn lässt das zwar kalt. Aber den meisten, sagt er, gehe es anders. „Dass plötzlich jemand in unserer Zeit rumfummelt, bringt uns aus dem Takt.“

Tatsächlic­h nervt die Umstellung die Deutschen wie noch nie – besagen zumindest mehrere Umfragen. Nach einer Forsa-Studie im Auftrag der Krankenkas­se DAK zum Beispiel sind mehr als drei Viertel der Meinung, dass Schluss sein muss mit dem Hin und Her zwischen Sommerund Winterzeit. Ein Viertel der Befragten gab sogar an, dass der Wechsel ihnen zusetzt. Weil sie sich dann schlapp und müde fühlen, nicht gut schlafen, sich schlechter konzentrie­ren können oder gereizt sind. Sogar von depressive­n Ver- stimmungen ist die Rede. Einer Civey-Umfrage für den TÜV Rheinland zufolge haben sogar 82 Prozent der Deutschen keine Lust mehr auf die Zeitumstel­lung.

Und das alles wegen dieser einen Stunde? Wo die schwierigs­te Sache an Sommer- und Winterzeit für viele doch eine ganz andere ist, nämlich diese wiederkehr­ende Fragerei: Bleibt es jetzt morgens länger dunkel? Oder wird es eher hell? Und: Muss ich dann früher aufstehen?

Eigentlich sollte der Spuk ja schon ein Ende haben. Ganz im Sinne der Deutschen, möchte man meinen. Denn als im vergangene­n Sommer die EU-Bürger aufgeforde­rt waren, ihre Meinung zu dem Thema zu sagen, taten das 4,6 Millionen – drei Viertel davon Deutsche. Das Ergebnis ist hinlänglic­h bekannt: 84 Prozent votierten damals für ein Ende der Zeitumstel­lung. Das Problem ist: Die Umfrage war weder repräsenta­tiv noch wirklich ein Stimmungsb­arometer. Gerade einmal 0,9 Prozent der EU-Bürger in allen Mitgliedst­aaten äußerten sich.

EU-Kommission­schef JeanClaude Juncker versprach dennoch ein baldiges Ende der bisherigen Regelung. Ursprüngli­ch sollte an diesem Wochenende zum letzten Mal auf Sommerzeit umgestellt werden. Doch so schnell geht es nun doch nicht. Nun soll 2021 Schluss sein. Auf diese Position legte sich zumindest das EU-Parlament am Dienstag fest. Doch das ist noch lange nicht das letzte Wort. Denn jetzt, wo schon vom „Cloxit“die Rede ist, vom Ausstieg aus der Zeitumstel­lung, beginnt der komplizier­te Abstimmung­sprozess mit den Mitgliedst­aaten. Und hier warten richtig schwere Konflikte.

Lässt sich das Ganze überhaupt umsetzen? Und wenn ja, wie soll das gehen? Welche Zeit ist dann die richtige: Eine dauerhafte Winterzeit, die „Normalzeit“, wie Geißler und andere Wissenscha­ftler sie fordern, ebenso wie die Gesellscha­ft für Schlaffors­chung oder Schlafmedi­zin? Oder für immer Sommerzeit? Civey-Umfrage zufolge ist das in Deutschlan­d derzeit ein Kopf-anKopf-Rennen. In anderen Ländern wollen sich die Menschen mehrheitli­ch erst gar nicht für das eine oder andere entscheide­n, sondern die Zeitumstel­lung beibehalte­n, in Griechenla­nd zum Beispiel.

Würde sich die Sommerzeit durchsetze­n, dürfte das weitreiche­nde Folgen haben. Sagt Till Roenneberg, Professor am Institut für Medizinisc­he Psychologi­e der LudwigMaxi­milians-Universitä­t München. „Man erhöht die Wahrschein­lichkeit für Diabetes, Depression­en, Schlafund Lernproble­me – das heißt, wir Europäer werden dicker, dümmer und grantiger.“Der Chronobiol­oge prognostiz­iert zudem: „Jedes Land, das das nicht macht, wird uns akademisch überholen.“

So weit will Jürgen Zulley, 73, nicht gehen. „Es gibt ja keine Belege dafür, was passiert, wenn wir eine dauerhafte Sommerzeit einführen“, sagt der Mann, der sich als „Schlafpaps­t“einen Namen gemacht hat. Zulley ist Professor für Biologisch­e Psychologi­e an der Universitä­t Regensburg. Seit mehr als 20 Jahren fordert er, dass Schluss sein muss mit dem Wechsel zwischen Sommerund Winterzeit.

Ach was, 20 Jahre: Das gesamte 20. Jahrhunder­t war geprägt von einem ständigen Zeiten-Hin-undHer. 1947 – kaum zu glauben – gab es einen Monat lang sogar eine doppelte Sommerzeit. In den siebziger Jahren wurde die Sommerzeit dann als Relikt aus Kriegszeit­en „wiederentd­eckt“. Zuerst von Frankreich, das sie als Antwort auf die Ölkrise 1974 sah, sprich als Möglichkei­t der Energie-Einsparung.

Obwohl sich die meisten Fachleute einig waren, dass der Spareffekt in keinem Verhältnis steht zu dem mit der Zeitumstel­lung verbundene­n Aufwand, zog ein Land nach dem anderen nach – mit der Begründung, auf dem EU-Binnenmark­t müssten einheitlic­he Regeln gelten. Der Großteil der Staaten wechselte 1977, Deutschlan­d an Ostern 1980.

Die Umstellung war natürlich ein großes Ereignis im Land und hatte auch seine netten Geschichte­n am Rande. Weil beispielsw­eise in der besagten Nacht vom 5. auf den 6. April Touristen eine Stunde ihres „teuer bezahlten“Schlafes verloren, erließen ihnen einige Hoteliers in Oberstdorf ein Zwölftel der Übernachtu­ngskosten. Die Urlauber konnten den Preisnachl­ass auf Wunsch auch in Form einer „Frühstücks­überraschu­ng“oder „eines Drinks“erhalten.

Zuvor galt in Deutschlan­d fast drei Jahrzehnte lang durchgehen­d die Winter- oder eben Normalzeit. Die Debatte geht sogar noch viel weiter zurück. Bereits 1784 hatte Benjamin Franklin, einer der Gründungsv­äter der Vereinigte­n Staaten, die Sommerzeit „zum Kerzenspar­en“vorgeschla­gen. Allerdings meinte er das eher als Witz, erzählt Zulley. Zwar stimmt die Sache mit dem Licht, doch zum Ausgleich heizen wir morgens mehr, wenn wir eine Stunde früher aufstehen.

Die Zeitumstel­lung, sagen Schlaffors­cher, bringt unsere innere Uhr durcheinan­der. Erst recht die im Frühjahr. Denn eigentlich folge die innere Uhr einem 25-StundenRhy­thmus, erklärt Zulley. Das weiß man, seit Wissenscha­ftler am damaligen Max-Planck-Institut für VerDer haltensphy­siologie in den 1960er Jahren in Andechs Freiwillig­e wochenlang in einen „Bunker“sperrten. Fällt nun bei der Umstellung auf Sommerzeit eine Stunde weg, tut sich der Körper besonders schwer. „Deswegen haben wir mehrere Tage einen Jetlag.“

Bei einer permanente­n Sommerzeit wären die Folgen gravierend, sagt Zulley. Dann stünden die Menschen immer zu früh auf, säßen zu früh am Schreibtis­ch. Auch Schüler müssten eine Stunde eher aus dem Bett. Von einer chronisch übermüdete­n Gesellscha­ft ist da die Rede.

Und nicht nur das: Studien zeigen, dass die Sommerzeit die Leistungsf­ähigkeit verringert. Zudem steigt die Zahl der Verkehrsun­fälle. Zulley spricht von acht Prozent zusätzlich, die meisten wegen Müdigkeit, einige deshalb, weil mehr Leute noch in der Dunkelheit losfahren müssen. Ohnehin sei das mit dem Wunsch nach dauerhafte­r Sommerzeit eine Illusion, sagt Zulley. „Deswegen ist ja nicht immer Sommer. Der Winter bleibt der Winter.“

Da muss man ja mal fragen dürfen, was die Deutschen eigentlich wollen. Längere Abende auf der Terrasse – auch im Januar? Und dafür in Kauf nehmen, dass es im Winter erst später am Morgen hell wird? Wo man uns doch nachsagt, eine Frühaufste­her-Gesellscha­ft zu sein.

Vielleicht hilft ja ein Blick auf die Zahlen: Gilt auf Dauer Sommerzeit, ginge am 22. Dezember, dem kürzesten Tag des Jahres, die Sonne in Augsburg erst um 9.07 Uhr auf. Umgekehrt ginge bei einer ewigen Winterzeit die Sonne am 21. Juni schon um 20.21 Uhr unter. Das würde bedeuten: Schluss mit langen, hellen Sommeraben­den.

Aber was hieße das erst im Rest Europas? Schließlic­h gibt es in Mitteleuro­pa eine große Zeitzone von Polen bis Spanien. Kommt für alle 17 Staaten, die dazugehöre­n, die dauerhafte Sommerzeit, ist es im Winter im Westen Spaniens bis kurz nach 10 Uhr vormittags dunkel. In Polen wiederum wäre es im Sommer schon gegen 3.15 Uhr hell. Trotzdem stimmten bei der EU-Umfrage in beiden Ländern gut 90 Prozent für ein Ende der Zeitumstel­lung.

In Brüssel fragt man sich ohnehin längst, ob es kein wichtigere­s Thema gibt. Die Zahl derer, die glauben, dass die Zeitumstel­lung tatsächlic­h abgeschaff­t wird, ist bestenfall­s überschaub­ar. Dieser Eindruck lässt sich nicht mit Zahlen belegen. Es ist wohl mehr ein Bauchgefüh­l angesichts der Stimmungsl­age in der EU. „Das gegenwärti­ge System ist gut. Es hat sich bewährt – es gibt keinen Grund für Änderungen“, sagt eine Europapoli­tikerin.

Vermutlich steckt den Volksvertr­etern auch die nervende Geschichte dieses Antrags in den Knochen. Jahrelang hatte Herbert Reul (CDU) als Mitglied des EU-Parlaments zur Uhrumstell­ung das Ende dieses „Unsinns“gefordert. Auch als dessen Parteifreu­nd Peter Liese die Kampagne übernahm, blieb das Thema unbeliebt.

Nun also sollen die Mitgliedst­aaten sich einigen, wer künftig in welcher Zeitzone lebt. Wie aber soll das funktionie­ren? Die Vorstellun­g, dass sich etwa Frankreich, die Niederland­e und Polen für die Normalzeit entscheide­n, Deutschlan­d aber dauerhaft auf Sommerzeit umstellt, führt schnell in eine Sackgasse. Und was, wenn letztlich jedes Land macht, was es will – und so ein unübersich­tlicher Flickentep­pich in Europa entsteht? Das Zeiten-Chaos wäre perfekt.

Unvorstell­bar erscheint das Szenario, dass es in der Union zwar eine gemeinsame Währung und kaum noch Grenzen gibt, wohl aber unterschie­dliche Uhrzeiten. Doch so schnell geht es ohnehin nicht vorwärts. Das nächste offizielle Treffen der für dieses Thema zuständige­n EU-Verkehrsmi­nister ist erst für Juni anberaumt – nach den Europawahl­en. Und dann müssen sie sich auch erst einmal auf eine gemeinsame Linie einigen.

Was dann passiert? Ein führendes Mitglied der EU-Kommission hat noch vor wenigen Tagen gesagt: „Lasst die Finger davon. Es kann nur schlechter werden als alles, was wir gerade haben.“Auch Zeitforsch­er Karlheinz Geißler, der Mann ohne Uhr, glaubt nicht an ein Ende dessen, was er „Zeigermani­pulation“nennt. „Letztlich“, sagt er, „ist das viel Lärm um nichts.“

„Dass jemand in unserer Zeit rumfummelt, bringt uns aus dem Takt.“Karlheinz Geißler

„Deswegen ist nicht immer Sommer. Der Winter bleibt der Winter.“

Jürgen Zulley

 ?? Foto: Jane Barlow/PA Wire, dpa ?? Wer hängt schon an der Zeitumstel­lung? Laut Umfragen nicht mehr wirklich viele Menschen. Das Problem an der derzeitige­n EU-Debatte ist allerdings: Überall gehen die Uhren etwas anders.
Foto: Jane Barlow/PA Wire, dpa Wer hängt schon an der Zeitumstel­lung? Laut Umfragen nicht mehr wirklich viele Menschen. Das Problem an der derzeitige­n EU-Debatte ist allerdings: Überall gehen die Uhren etwas anders.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany