Wertinger Zeitung

Kommt jetzt die große Brexit-Wende?

Großbritan­nien Heute könnte das Parlament Theresa May ins Abseits stellen. Doch ob der Aufstand gelingt, ist ungewiss

- VON KATRIN PRIBYL

London Was sich derzeit fast täglich im Königreich abspielt, dürfte später einmal seinen Niederschl­ag in den britischen Geschichts­büchern finden. Denn nicht nur der Brexit ist historisch, auch das politische Chaos hat eben solche Dimensione­n angenommen. Und nun folgt ein neues Kapitel im großen Drama. Es muss unter dem Titel „Aufstand des Parlaments“laufen, denn nichts anderes war am Montagaben­d passiert.

Die Rebellen feierten dabei zumindest einen Teilerfolg. Gegen den Willen der Premiermin­isterin Theresa May beschlosse­n sie, selbst nach einer mehrheitsf­ähigen Alternativ­e für das zwischen Brüssel und London verhandelt­e Austrittsa­bkommen zu suchen. Der Deal wurde bereits zwei Mal abgelehnt und auch wenn May mit bemerkensw­ertem – manche reden von realitätsf­remdem – Optimismus noch immer darauf hofft, dass er beim dritten Versuch vom Unterhaus gebilligt wird, stehen die Chancen schlecht. Sie ist so einsam und geschwächt wie nie. Vielleicht hilft es in solchen Situatione­n, daran zu erinnern, dass das Königreich eigentlich am Freitag aus der Staatengem­einschaft scheiden wollte. Daraus wird zum Leidwesen zahlreiche­r Brexit-Anhänger nichts.

Selbst mit der gewährten Verlängeru­ng der EU treten die Briten erst am 22. Mai aus – unter der Bedingung, dass May den Deal, der einen geordneten Brexit sichert, doch noch durchs Unterhaus bekommt. Fällt er wieder durch, hat London lediglich bis zum 12. April Zeit, der EU einen Alternativ-Plan zu präsentier­en.

Welche Option aber wird von einer Mehrheit der Abgeordnet­en favorisier­t?

In einer Art Ausschluss­verfahren – noch ist nicht klar, in welchem Modus votiert wird – will das Unterhaus am heutigen Mittwoch eine Lösung finden. Auf dem Tisch liegen mehrere Optionen. Soll die Bevölkerun­g noch einmal mittels eines Referendum­s befragt werden, wie rund eine Million Protestler am vergangene­n Wochenende in London gefordert hatten? Es scheint unwahrsche­inlich, bislang gibt es im Parlament keine Mehrheit dafür. Oder könnte der Brexit gar komplett abgeblasen werden? Fast sechs Millionen Menschen unterzeich­neten bis gestern Nachmittag eine entspreche­nde Petition, doch auch wenn dies ein starkes Signal aussendet, ist diese Option auf der in der Europafrag­e tief

gespaltene­n Insel politisch kaum durchsetzb­ar. Der härteste Bruch, ohne Deal und Übergangsp­hase aus der EU zu krachen, wurde dagegen erst kürzlich schon vom Parlament bei einem Votum abgelehnt. Daneben stehen weichere Szenarien eines Austritts zur Wahl, etwa eine engere Anbindung an die EU, ein Verbleib des Landes in der Zollunion oder gar im gemeinsame­n Binnenmark­t. Da die opposition­elle Labour-Partei eine „umfassende Zollunion“wünscht, könnte sich am Ende ein Weg in diese Richtung abzeichnen.

Auch wenn die Ergebnisse dieser sogenannte­n richtungsw­eisenden Abstimmung­en („indicative votes“) juristisch keineswegs bindend sind, kann May diese politisch unmöglich ignorieren. Zu gering ist mittlerwei­le die Unterstütz­ung für die Premiermin­isterin in den eigenen Reihen der Tories. Gleich 30 Parteikoll­egen votierten am Montag für den Antrag und damit gegen die Regierung, darunter drei Staatssekr­etäre, die damit auch ihren Rücktritt erklärten.

Folgt May ihrem Beispiel? Oder wird sie per Misstrauen­svotum gestürzt? Folgen Neuwahlen? Paradoxerw­eise könnte die „demütigend­e Niederlage“, wie Brexit-Schattenmi­nister Keir Starmer das Votum von Montag nannte, der Regierungs­chefin sogar helfen. Sollte sich das Parlament nicht auf eine Alternativ­e einigen, dürfte May diesen Fakt nutzen, um triumphier­end mit ihrem Deal zu wedeln, erklärt Politikwis­senschaftl­er Anand Menon. Sollte sich dagegen der Großteil der Abgeordnet­en für eine softere Brexit-Alternativ­e ausspreche­n, würde das die europaskep­tischen Hardliner bei den Tories nervös machen. „Die Angst, am Ende mit einer weicheren Version oder gar ohne EU-Austritt dazustehen, könnte sie überzeugen, doch noch für Mays Abkommen zu stimmen“, so Menon. Der Brexit ist nicht nur historisch, sondern auch komplizier­t.

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Foto: Adobe Stock

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