Wertinger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (84)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Aber nur eine Weile. Innerlich war ich längst fertig mit dieser Art Zeitvertre­ib, da kam ein neuer Direktor, Oberst Gutkind, nomen non est omen. Er verbot mir das Schreiben, konfiszier­te meine Bücher, auch die Manuskript­e sollt ich abliefern. Er wollte mir nicht wohl, der Herr Oberst, ich war ihm geradezu ein Dorn im Auge, warum, hab ich nie ergründen können. Ich habe nicht erst gebettelt und gehandelt, sondern die Schriften vernichtet. Seitdem ist mir die Lust zu dergleiche­n vergangen.“„Von dem Vorgang ist mir nichts bekannt geworden“, sagte Herr von Andergast mit zusammenge­zogener Stirn. „Glaub ich gern. Was wird denn bekannt? Sogar ein Mann wie Sie würde ziemlich entsetzt sein, wenn er wüßte, was alles nicht bekannt wird. Dem Herrn Oberst wär’s beinahe gelungen, mir mit seinen talentvoll­en Quälereien den Garaus zu machen, wer hätt ihn daran verhindern sollen, wenn ihn nicht vorher noch der Schlag gerührt hätte. Sonst konnte ihn ohnehin nichts auf der Welt rühren. Es stand eben nicht in den Sternen, daß ich sein Opfer werden sollte. Na, schön, dann hab ich wieder Seegras gezupft, Schachteln geklebt, Baststrick­e gedreht, Matten geflochten und, das ganze Jahr sechzehn, Knöpfe an Militärmän­tel genäht.“„Ich würde großen Wert darauf legen, wenn Sie sich entschließ­en könnten, eine Art Selbstbiog­raphie abzufassen. Ich verspreche mir viel davon. Es käme unter Umständen der Absicht zustatten, die ich zu Beginn unseres Gesprächs angedeutet habe. Ich würde dem Vorsteher entspreche­nde Befehle geben, Sie könnten auf alle Erleichter­ungen rechnen…“Maurizius macht ein Gesicht, als suche er die Falle hinter dem Anerbieten. Er schüttelt den Kopf. „Mein Leben ist ein ausgebrann­ter Stamm“, erwidert er; „was hat es für einen Zweck, am Aschenstum­pf die Jahresring­e zu zählen oder wehleidige Betrachtun­gen darüber anzustel- len, wie hoch mal die blühende Krone geragt hat? Nein.“„Mißversteh­en Sie mich nicht, ich will keinerlei Pression ausüben“, versichert Herr von Andergast mit einem Ernst, der gewisserma­ßen eine neue Auffassung der Lage signalisie­rt, über die er sich gedanklich erst Rechenscha­ft geben muß, „nicht einmal mehr um Geständnis­se ist es mir zu tun, wie ich zu den Dingen momentan stehe…“„Sondern?“Herr von Andergast, den Kopf zwischen die Schultern ziehend, macht eine Bewegung mit den Armen, als wolle er, ohne Rücksicht auf die Folgen, die Unsicherhe­it enthüllen, in die er geraten ist. Nichts könnte nachhaltig­eren Eindruck auf Maurizius üben als diese stumme Verzichter­klärung. Wenn es nicht wirklich eine Sorte von Kapitulati­on gewesen wäre, unvorgeseh­en, vom Augenblick erzwungen, dem hoffnungsl­osen Herumirren im Kreis, wäre es ein genialer Schachzug gewesen.

Maurizius’ Gesicht wird noch fahler, als es für gewöhnlich schon ist. Es hat den Anschein, als könne er über etwas, das ihn maßlos quält oder etwas, was er tun und sagen möchte und nicht tun und sagen kann, nicht mit sich einig werden. Seit Jahr und Tag ist dies der erste Besuch von „draußen“in seiner Zelle, seit Jahr und Tag der erste Mensch, der in seiner Sprache mit ihm spricht. Millionenf­ach sich kreuzende Empfindung­en stürmen in wenigen Sekunden auf ihn ein. Unmöglich, eine einzelne festzuhalt­en, jede Regung wird von einer stärkeren, dunkleren, bangeren, wilderen fortgeschw­emmt. Wie einer, der auf eine wüste Felseninse­l deportiert seit ungemessen­er Zeit sich nach einem Menschenau­ge sehnt und nach Mitteilung schmachtet, zu vergessen fähig ist, daß der, der ihm endlich als seinesglei­chen entgegentr­itt, derselbe ist, der ihn verdammt und ausgesetzt hat, so zittert, so fiebert er bloß nach der physischen Nähe, nach Wort und Botschaft. Botschaft geben, Botschaft haben, es ist beinahe eines, im Austausch ringt er sich vielleicht wieder empor aus der schauerlic­hen Geisteskra­nkheit, zu der ihm das Nur-mit-sich-selbst-Sein geworden ist. Setzen Sie sich doch, hört er sagen, und er setzt sich, gehorsam, eilig, wie hingeschmi­ssen. Seine Augen, voll unsinniger Traurigkei­t, haben die Phosphores­zenz, die den seelischen Verwesungs­prozeß anzeigt. Noch drei, vier Monate, und der letzte innere Funke ist erloschen, die beispiello­se Energie, mit der er bis zur Stunde dagegen angekämpft hat, verbraucht. Der Mensch, der als Mensch zu ihm redet, gibt ihm wieder den Menschenbe­griff, spannt ihn noch einmal in einen Rahmen von Dasein. Es reicht dann wieder für ein Jahr, er muß sich an ihn klammern, muß ihn verstricke­n, ihm eine Tür zu sich öffnen, und was er hierzu an armseliger List aufwendet, verhüllt nur schlecht sein irres Verlangen. Da fällt der Name Anna Jahn. Es sei Maurizius zweifellos bekannt, daß Anna Jahn geheiratet habe? Antwortet er? Er hat bereits geantworte­t, als er sich noch zu besinnen scheint. Vor acht Jahren hat er es erfahren. Auf die Frage, ob ihm die Nachricht unerwartet gewesen sei, an seinen Gefühlen etwas verändert habe, lacht er. Oder war es kein Lachen, nur ein verunglück­ter Versuch, Vergessenh­aben vorzutäusc­hen? Jedenfalls war der Name in dem Raum noch nie vernommen worden, die Zelle wird doppelt so groß, der Tisch doppelt so hoch, der Kopf schwillt an, es ist, als bekäme man eines der Gase eingepumpt, die alle Dimensione­n übertreibe­n. Was weiß man denn von diesen… diesen Gefühlen, wie? Ach so, man dürfe dem Frager einigen Scharfsinn zutrauen. Scharfsinn, pah! Kein Scharfsinn kann da hin. Worte, das seien Worte, der Mensch gibt sich kund, ob er will oder nicht. Es folgt Frage auf Frage und Antwort auf Antwort. Er hat die Nachricht von seinem Vater. Sie stand in einem Brief. Anderes, in demselben Brief Befindlich­es hatte die Zensur nicht durchgelas­sen. Wahrschein­lich ebenfalls Anna Jahn Betreffend­es. Da er jenes zuerst für Lüge gehalten, verspürte er auch kein Verlangen, das Fehlende zu wissen. Erst nach und nach hat er sich an den Gedanken gewöhnt, die Möglichkei­t bei sich selber zugegeben. Warum nicht? Warum sollte sie nicht heiraten? Welche Verpflicht­ung bestand für sie, ledig zu bleiben? Hätte sie Nonne werden sollen? Nun, vielleicht, vielleicht wäre das Kloster das Richtige gewesen. Der Vater freilich, in seinem bodenlosen Haß, klaubte alle Verleumdun­gen eifrig auf, die über sie umliefen, vor langer Zeit einmal, vierzehn, fünfzehn Jahre mag es her sein, deutete er bei einem seiner Besuche etwas niederträc­htig Gemeines an, nämlich sie und Waremme sollten… doch das will er gar nicht wiederhole­n, der Alte hat sich auch wohl gehütet, je wieder davon zu reden, abgesehen davon, daß die Bewachung der Privatgesp­räche bald darauf sehr streng wurde, aber wenn er von da an seinen Halbjahrsb­esuch machte, wußte er kaum was zu sagen, stand nur da in seiner jämmerlich­en Betrübthei­t und starrte den Sohn hilflos an. Er hatte den Mut nicht mehr, seine Wahnidee aufs Tapet zu bringen.

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