Tod einer Unbestechlichen
Revolution Die Aktivistin Jekaterina Gandsjuk starb nach einem Säureangriff in einer ukrainischen Provinzstadt. Der Mord überschattet die Präsidentschaftswahl im Land und ist zum Symbol geworden für den Kampf der Maidan-Bewegung gegen die alten Eliten
Cherson An dem Ort, an dem sich ein Liter Schwefelsäure durch Jekaterina Gandsjuks Haut und Haare fraß, erinnert nichts an die Tat. In dem Neubauviertel in der südukrainischen Stadt Cherson fällt das Auge auf einen Hauseingang mit verplombter Metalltür, wie er üblich ist in dem Land. Kerzen, Blumen oder Briefe mit Herzen sind nirgends zu sehen an der Stelle, an der am 31. Juli 2018 die jüngste Nationalheldin der Ukraine chemische Verbrennungen dritten Grades erlitt. Sergei Nikitenko starrt auf den Asphalt, auf dem sich seine Freundin krümmte. Die Säure war ihr von hinten über Kopf und Rücken gegossen worden. Passanten besprengten die Aktivistin und Politikerin vergeblich mit Wasser, um die ätzende Flüssigkeit abzuwaschen. „Ihre Feinde verhindern jetzt, dass die Straße nach ihr benannt wird und ein Ort des Gedenkens entsteht“, sagt Nikitenko.
Jekaterina Gandsjuk starb am 4. November nach einem Martyrium in mehreren Kliniken. Seitdem trauert nicht nur Nikitenko, sondern die ganze Ukraine um „Katja“. Viele sind wütend und trauen ihren ohnehin selten für ihre Ehrlichkeit bewunderten Politikern vor der Präsidentschaftswahl am Sonntag noch weniger über den Weg. Die Frage: „Wer hat Katja Gandsjuk ermordet?“wird seit dem Spätherbst überall im Land auf Hauswände gesprüht. Demonstranten brüllen sie als Slogan auf zahllosen Märschen.
Trotz des Aufruhrs geben Justiz und Polizei Antworten, die bisher weder Nikitenko noch die Öffentlichkeit zufriedenstellen. Der Verdacht gegen Politiker der Parteien von Präsident Petro Poroschenko und seiner Herausforderin Julia Timoschenko bei der Wahl um das höchste Staatsamt zieht Kreise. Das könnte dem mit dem Oligarchen Igor Kolomoiski verbündeten Fernsehstar und Komiker Wladimir Selenski helfen. Er liegt schon eine Weile in den Umfragen vorne.
Gandsjuk ist ein Symbol für eine Reihe ungeklärter Morde und Attacken auf Aktivisten der jungen Zivilgesellschaft oder auf Journalisten. So viele machten Ähnliches durch, „aber niemand musste so leiden wie Katja“, erzählt der Investigativreporter Nikitenko. Er sitzt in einem Café und rührt Zucker in eine Tasse Tee, an der er kaum nippt. Er hat viel zu berichten und weiß gar nicht, wo er anfangen soll. Viele Ukrainer spürten im Alltag, dass der nach der Revolution auf dem Maidan versprochene Rechtsstaat nicht fest im Sattel sitzt. Aber niemanden treffe es so hart wie jene, die für eine bessere Ukraine kämpfen. Nikitenko bezieht sich auf dutzende Anschläge auf Umweltschützer und Aktivisten, die sich gegen Korruption und Machtmissbrauch einsetzen. Menschenrechtler sprechen von 100 Attacken allein in den vergangenen zwei Jahren. Vier endeten tödlich.
Viele der Ermordeten oder Attackierten haben 2013 und 2014 für den Sturz des korrupten und autokratisch herrschenden Präsidenten Viktor Janukowitsch demonstriert. Über die Täter ist so gut wie nichts bekannt, sie schlagen immer von hinten zu, um unerkannt zu bleiben. Sie werden so gut wie nie festgenommen und wenn, schweigen sie eisern, wenn es um ihre Auftraggeber geht. Der Krieg im Osten der Ukraine hat das Land mit Waffen überschwemmt und mit Menschen, für die der Tod eine billige Ware geworden ist. Ein Auftragsmord kostet umgerechnet nur ein paar hundert Euro. Zerschlagene Kniescheiben oder gebrochene Rippen sind noch um einiges günstiger zu haben.
Sergei Nikitenko erzählt voller Bewunderung von seiner Freundin Katja. Einer Frau, deren Talent es offenbar war, sich Feinde zu machen. Jung und ehrgeizig, aber nie ohne Herz sei die 33-Jährige gewesen, als sie im Rathaus der 300000Einwohner-Stadt Cherson anfing, für den nach dem Maidan gewählten Bürgermeister Wolodymyr Nikolaienko zu arbeiten. Eine Liberale, die Nationalisten gegenüber Vorbehalte gegen einen Marsch von Homosexuellen in Cherson als „Blödsinn“abtat. Eine Patriotin, die aber auch mit genau diesen Nationalisten paktierte, wenn sie prorussische Kräfte in Cherson attackierte. Katja habe für Gerechtigkeit gebrannt, erzählt ihr Freund.
Bevor sie anfing, für die Stadtregierung zu arbeiten, war die studierte Philologin beim UN-Flüchtlingswerk angestellt. Sie half Flüchtlin- gen aus dem Kriegsgebiet in der Ostukraine unbürokratisch und schnell. Dann holte der neue Bürgermeister die Frau an seine Seite. Sie sollte den Stall aus der Janukowitsch-Zeit ausmisten und den Bürokraten auf ihren Sesseln Dampf machen, erzählt Nikitenko.
Gandsjuk reizte zwei mächtige Männer in der lokalen Politik bis aufs Blut. Einer von ihnen, Wladislaw Manger, ist der Vorsitzende der Regionalversammlung von Cherson und gehörte bis Anfang Februar der Partei von Julia Timoschenko an. Der andere ist der Leiter der Bezirksverwaltung, Andrej Gordejew, ein Politiker der Poroschenko-Partei. Der Journalist beschreibt die beiden Berufspolitiker als Menschen, die sich geschmeidig neuen Zeiten anpassen können. Gandsjuk brachte sie in der Öffentlichkeit mit kriminellen Machenschaften in Verbindung, nachdem Nikitenko und andere Investigativ-Journalisten Ungereimtheiten aufgedeckt hatten. Sie verdächtigte die Männer insbesondere, sich am illegalen Holzhandel zu bereichern. Gandsjuk verlangte nicht nur Aufklärung, sondern verhöhnte auch die beiden Politiker in den sozialen Netzwerken.
Nikitenko erzählt vom Kampf der neuen gegen die alte Elite, ein Kampf um die Stadt und ihre Seele. Die nach dem Maidan eingeleitete Dezentralisierung im Land machte die Kommunen unabhängiger von Kiew. Sie sägte an dem Band, das lokale Oligarchen mit dem Machtapparat in der Hauptstadt verband. Die Städte können nun vieles selbst regeln, haben ein eigenes Budget. Das weckt Begehrlichkeiten bei korrupten Politikern. Gleichzeitig mischen sich die Bürger in für die Ukraine völlig neuer Weise in die Politik vor ihrer Haustür ein. Sie gründen Bürgerinitiativen, und die Gesetze geben ihnen nun Möglichkeiten mitzugestalten. Die Reformen helfen Politikern wie Katja Gandsjuk und Journalisten wie Sergei Nikitenko, alten Führungsfiguren das Leben schwerzumachen.
Einmal sei ein Abgeordneter aus dem Stadtparlament zu Bürgermeister Nikolaienko und Katja Gandsjuk gegangen, weil Nikitenko dessen Ausgaben für die Einrichtung seines Büros im Rathaus publik gemacht hatte. Solche Angaben sind für die Presse nach dem Maidan nun transparent. „Der Abgeordnete hat vom Bürgermeister verlangt, mir das zu untersagen. Er und Katja haben den Mann ausgelacht und ihm gesagt, dass niemand mehr der Presse etwas zu verbieten hat.“
Früher, vor dem Maidan, hatte Viktor Janukowitsch für Loyalität gesorgt, indem er seinen Provinzfürsten gestattete, selbst ihr kleines Königreich zu errichten. Die Feudalherren der lokalen Oligarchien hetzten Steuerfahnder auf kritische Organisationen, stellten Aktivisten wegen fingierten Vergehen vor ihnen ergebene Gerichte oder ließen sie in Psychiatrien einweisen. Die lokalen Medien gehörten in der Regel Vertrauten. Der repressive Apparat bot den Mächtigen also viele Möglichkeiten, Kritiker mundtot zu machen, Gewalt war gar nicht nötig.
Nun müssen die Oligarchen damit leben, dass Journalisten wie Nikitenko leichter an Informationen kommen und „Querulanten“wie Gandsjuk Entscheidungsgewalt haben. Das gefällt ihnen nicht.
Sergei Nikitenko und seine Mitstreiter fanden im Mordfall Gandsjuk die Spur zu den wahren Tätern. Vier Männer aus der Einheit des Kriegsveteranen Sergei Torbin sollen die Attacke ausgeführt haben. Sie haben auch gestanden. Torbin steht seit August vor Gericht, schweigt aber zu den Hintergründen. Er gilt als Mann aus dem Umfeld von Wladislaw Manger.
Das allein macht den Präsidenten der Regionalversammlung noch nicht zum Verdächtigen. Doch während Gandsjuk auf der Intensivstation einen langsamen Tod starb, fand ihr Freund in Cherson Indizien, die Manger belasteten. Seine Partei schloss ihn Anfang Februar aus. Die Polizei nahm ihn fest. Doch das Gericht entließ Manger wieder auf Kaution. Seine Chancen stehen nicht schlecht, dass das Verfahren mangels Beweisen eingestellt wird.
Würden wir aufgeben, wären wir morgen so tot wie Katja, sagt Marina Khromykh in einem Szenelokal in Kiew. Aus ihrer Manteltasche kramt sie eine Tränengasdose hervor. Die dürfte niemanden mit einem Kanister voller Säure in der Hand beeindrucken. Aber so fühlt sich Khromykh auf der Straße wenigstens etwas sicherer. Mitstreiter erhielten in den vergangenen Wochen Drohungen. Bei anderen sei die Wohnungstür demoliert worden, erzählt sie. Die 32-Jährige arbeitet für die UN-Kinderschutzorganisation Unicef in der ukrainischen Hauptstadt. Nach der Attacke auf Gandsjuk stellte sie eine Seite auf Facebook online, auf der sich
Die Antwort der Justiz stellt niemanden zufrieden
Einst unterstützten sie die Ikone Julia Timoschenko
Freunde und Unterstützer der Aktivisten austauschten. Die Webseite wurde zu einem Internetphänomen in der Ukraine. Sie wurde im ganzen Land geteilt und kommentiert.
Khromykh und Gandsjuk hatten sich zwei Jahre nach der Orangenen Revolution von 2004 in der Jugendorganisation der Partei von Julia Timoschenko kennengelernt. Später wandten sich beide von der Ikone der ersten ukrainischen Revolution ab. Sie galt ihnen als eine Oligarchin unter anderen. „Wir haben uns geschworen, niemals Teil dieses Systems zu werden“, sagt Khromykh.
Sie ist überzeugt davon, dass die Attacke in Cherson von hochrangigen Politikern in Kiew gedeckt wird. Nur so erklärten sich die Angriffe auf ihre Mitstreiter in verschiedenen Landesteilen. Es sei egal, wer nach der prognostizierten zweiten Runde der Präsidentschaftswahl im April das höchste Staatsamt einnimmt, sagt sie. „Weder Poroschenko noch Timoschenko haben ein Interesse an einer Aufklärung von Katjas Tod, und Selenski ist auch nur eine Oligarchen-Marionette. Wir Aktivisten müssen weiter Druck ausüben.“Khromykh glaubt, dass Jekaterina Gandsjuk Pläne für eine politische Laufbahn auf nationaler Ebene hatte. Sie sagt: „Ihr Tod ist ein Verlust für das Land. Niemand kann sie ersetzen.“