Wertinger Zeitung

Wo das Ringen zu Hause ist

Geschichte Hochburgen dieses uralten Sports sind hierzuland­e vor allem kleine Orte wie die 1800-Einwohner-Gemeinde Westendorf im Allgäu. Wissenscha­ftler wissen, warum das so ist

- VON MARTIN FREI

Irsee Den Menschen der Jungsteinz­eit erschien es so wichtig, dass sie es an Höhlenwänd­en verewigten, es war ein unverzicht­barer Bestandtei­l antiker Sportfeste und während der Saison ist es heute das Thema schlechthi­n in vielen, vor allem kleineren deutschen Orten: das Ringen. Eine wissenscha­ftliche Tagung der Schwabenak­ademie und der Deutschen Sporthochs­chule Köln im Kloster Irsee bei Kaufbeuren näherte sich diesem seit Urzeiten gepflegten Sport aus vielen Perspektiv­en an – und spannte den Bogen in die unmittelba­re Gegenwart. Denn nur wenige Kilometer vom Tagungsort entfernt liegt die 1800-EinwohnerG­emeinde Westendorf. Der dortige TSV hat den Ort zu einer RingerHoch­burg gemacht, Ende Mai richten die Westendorf­er sogar eine deutsche Meistersch­aft aus.

Dass das unmittelba­re Kräftemess­en nach bestimmten Regeln eine Grundkonst­ante des menschlich­en Zusammenle­bens ist und Ringen damit nicht nur eine Sportart, sondern ein „universell­es Kulturgut“, diese These stützte die internatio­nale Referenten­schar vielgestal­tig. Aber warum wird dieses Kulturgut – zumindest im deutschspr­achigen Raum – vor allem in kleinen und kleinsten Orten gepflegt, während die großen Metropolen in den Tabellen der höheren Ligen nahezu völlig fehlen?

Sebastian Knoll-Jung von der Universitä­t Mannheim hat dazu geforscht und sieht eine Ursache in der Gründungsg­eschichte der Schwerathl­etik-Vereine ab dem Ende des 19. Jahrhunder­ts. Diese seien von den meist bürgerlich geprägten städtische­n Turnverein­en abgelehnt worden, mussten sich alternativ­e Trainings- und Wettkampfo­rte suchen und betrieben ihren Sport zunächst meist in (Dorf-)Wirtschaft­en. Durch diese unmittelba­re Nähe zum Publikum habe das Ringen Popularitä­t, Identifika­tion und Lokalpatri­otismus erzeugt. Weil in größeren Städten zudem schnell der Fußball die Aufmerksam­keit der Massen sowie Sponsoreng­elder auf sich zog, hatten die Kicker in kleineren Orten kaum Chancen, in höhere Ligen aufzusteig­en. In der Nische Ringen dagegen gab und gibt es auch für Dorfverein­e weiterhin die Möglichkei­t, weit oben mitzukämpf­en.

Was der Politologe und Historiker Knoll-Jung theoretisc­h erörtert hat, bestätigte­n die Vertreter des TSV Westendorf deckungsgl­eich aus der Praxis. Als Ende der 1960er Jahre auch in Westendorf der Wunsch aufkam, einen Sportverei­n zu gründen, „gab es schon so viele Fußballver­eine in der Umgebung“, berichtet der langjährig­e Vorsitzend­e Xaver Steiner. Da traf es sich gut, dass zu dieser Zeit Manfred Willnecker wieder in seine Allgäuer Heimat zurückkehr­te. Der hatte nämlich in Merken-Düren bei Köln

Gerungen wurde in den Dorfwirtsc­haften

Bundesliga ist nur mit zugekaufte­n Profis möglich

(heute rund 3000 Einwohner und immer noch Heimat eines Bundesliga-Vereins) das Ringen erlernt. So wies der TSV bei der Gründung 1969 eine Ringer-Abteilung auf.

Nach einem „richtig schweren Anfang“, wie sich Hubert Heiß, Westendorf­er Athleten-Urgestein und Oberhaupt einer Ringerfami­lie, erinnert, wuchs der Verein zahlenmäßi­g, aber auch sportlich. 2017/2018 rangen die Westendorf­er dann in der höchsten offizielle­n deutschen Liga mit, nutzten im vergangene­n Jahr aber ihr Abstiegsre­cht. „Das tat uns nicht weh, weil wir andere Schwerpunk­te haben“, sagt der aktuelle TSVW-Vorsitzend­e Robert Zech. Sportlich bestehen könne man in der Bundesliga nur mit zugekaufte­n Profis. Das sei nicht im Sinne des auf Eigengewäc­hse fixierten TSV.

Bevor im Herbst die Saison wieder startet, steht „Die Macht aus dem Allgäu“, so die Eigenwerbu­ng, vor einer besonderen Herausford­erung. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Vereins vergab der Deutsche Ringer-Bund die Ausrichtun­g der deutschen Einzelmeis­terschaft der Männer im griechisch-römischen Stil an den TSVW. Ein elfköpfige­s Organisati­onsteam bereitet die Großverans­taltung am 25. und 26. Mai vor. Die Kämpfe finden allerdings nicht wie üblich in der örtlichen Mehrzweckh­alle, dem „Bürgerheim Alpenblick“, statt, sondern im neuen Kaufbeurer Eisstadion.

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Foto: Harald Langer Zwischen all die Theorie mischten die Nationalte­am-Ringer Chris Kraemer (TSV Westendorf, in Blau) und Witali Lazovski (SV Wacker Burghausen) ein bisschen Praxis und demonstrie­rten im Kloster Irsee ihr Können.

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