Wertinger Zeitung

Zu Hause bei den Schmidts

Zeitgeschi­chte Was ist eigentlich aus der berühmtest­en Doppelhaus­hälfte Hamburgs geworden? Seit der Altkanzler gestorben ist, hat sich hier nichts verändert. Alles ist noch an seinem Platz. Als wären Loki und Helmut nur mal eben übers Wochenende weggefahr

- VON MICHAEL STIFTER

Hamburg Im Kleingarte­nverein Fasanenmoo­r wird Mitte April gewählt. „Der Vorstand erwartet ALLE Mitglieder zur Versammlun­g“, heißt es unmissvers­tändlich in dem Schaukaste­n, der inmitten der akkurat gepflegten Parzellen den Takt des Schreberga­rtenlebens vorgibt. Hier in Hamburg-Langenhorn hält man sich eben noch an Regeln. Der einzige Laden weit und breit, ein Bäcker an der Ecke, sperrt pünktlich um 15 Uhr zu. Der Schulbus kommt fahrplanmä­ßig. Ein Backsteinh­aus mit Vorgarten reiht sich unaufgereg­t an das nächste. Und so kann es leicht passieren, dass man einfach daran vorbeiläuf­t – an jener berühmten Doppelhaus­hälfte im Neubergerw­eg, in der Weltpoliti­k gemacht worden ist. Im Jahr 1961 hat ein junger SPD-Politiker ein kleines Namensschi­ld neben die Haustüre geschraubt. „Helmut Schmidt“steht bis heute schwarz auf Messing über der Klingel. Und auch sonst hat sich hier kaum etwas verändert, seit Loki und Helmut Schmidt eingezogen sind. Seit sie hier gelebt haben, geredet, geraucht, geliebt, gefeiert und getrauert. Seit sie hier gealtert sind und gestorben – nach über 70 gemeinsame­n Jahren.

Es ist ein komisches Gefühl, einfach so hereinzusp­azieren und in das Privatlebe­n des Altkanzler­s einzudring­en. Aber die Schmidts wollten es so. Es war ihr Letzter Wille. In ihrem Testament haben sie verfügt, dass ihr Wohnhaus exakt so erhalten bleiben soll, wie sie es verlassen haben. Und dass es für Besucher geöffnet wird. Dreieinhal­b Jahre nach dem Tod des Politikers wird es am Freitag die erste von ganz wenigen Führungen geben. Für uns hat Ulfert Kaphengst schon vorher aufgesperr­t. Er ist Sprecher der Bundeskanz­ler-Helmut-Schmidt-Stiftung, die sich um den Nachlass kümmert. Er kennt im Haus so ziemlich jeden Gegenstand. Alles ist noch an seinem Platz. „Als wären die Schmidts nur mal eben übers Wochenende an den Brahmsee gefahren.“

Wir gehen in das Büro jenes Mannes, der für die Deutschen der bedeutends­te Kanzler in der Geschichte der Bundesrepu­blik war. Der Raum ist bis unter die Decke vollgepack­t mit Büchern, mit Bildern und Nippes – Erinnerung­sstücke aus einem langen Leben. Wie etwa das kleine Schachbret­t samt Figuren, das Schmidt in britischer Kriegsgefa­ngenschaft geschnitzt und mit Kaffeesatz eingefärbt hat. Hier im Büro hat er oft bis tief in die Nacht hinein gelesen, sich Notizen gemacht, Reden, Artikel und Bücher geschriebe­n. In einem Etui auf dem Schreibtis­ch liegen grüne Stifte. Dazu muss man wissen, dass es traditione­ll dem Bundeskanz­ler und seinen Ministern vorbehalte­n ist, offizielle Dokumente mit grüner Tinte zu unterschre­iben. Schmidt hat das beibehalte­n, auch als er längst nicht mehr regierte.

Die Tischplatt­e ist übersät von kleinen Brandfleck­en, Spuren des größten Lasters des Ehepaars, das hier lebte: Im ganzen Haus findet man silberne Schatullen mit allerlei Tabakwaren, vornehmlic­h die legendären Menthol-Zigaretten des berühmtest­en Rauchers der Republik. Ihr Qualm hat die Wände mit einer eigenartig­en Patina überzogen. Nein, es riecht nicht nach kalten Kippen. Es riecht irgendwie gemütlich. Nach einer fast vergessene­n Zeit. Nach alten Geschichte­n, nach früher. An einem der Aschenbech­er im Büro klebt noch ein bisschen verbrannte­r Tabak. Daneben steht eine Kerze. Nicht der Romantik wegen, sondern für den Fall eiStromaus­falls. Man weiß ja nie. Deshalb steht im Regal auch griffberei­t eine verbeulte Taschenlam­pe.

In seinem Arbeitszim­mer vergaß Schmidt oft die Zeit, und so befinden sich auf dem Fenstersim­s ein Spiegel, ein Elektroras­ierer und ein Fläschchen Aftershave. So konnte er sich notfalls schnell frisch machen. Jedes Stück hat eine eigene Inventarnu­mmer, sogar der Stapel Taschentüc­her auf dem Schreibtis­ch. Mehr als ein Jahr lang erfasste ein Historiker über 6000 Gegenständ­e und legte sie dann penibel wieder zurück an Ort und Stelle. Es sind die Symbole des Alltags, die das Haus so besonders machen.

„Loki und Helmut Schmidt wollten kein Museum und keine Denkmäler, sie wollten ein Stück Zeitgeschi­chte erhalten“, sagt Kaphengst. Ja, die Geschichte kann man regelrecht spüren. Für einen Moment kommt die Versuchung auf, selbst an diesem berühmten Schreibtis­ch Platz zu nehmen. Ganz kurz nur. Aber es fühlt sich nicht richtig an. Und ohnehin kann man den Gedanken nur schwer ablegen, der Hausherr könnte jeden Moment zur Türe hereinkomm­en und fragen: „Wer hat euch denn hier reingelass­en?“

Bevor wir noch ertappt werden, gehen wir die Treppe hinunter, vorbei an Ölgemälden und dem Konzertflü­gel, auf dem Helmut Schmidt so gerne – und ziemlich gut – spielte. Er war ein Weihnachts­geschenk von Loki. Die begeistert­e Botanikeri­n bekam damals ein Gewächshau­s, ihr Mann das Klavier. Auch im Wohnallerh­and Kunst und Bücher, wohin man schaut. Auf der Fensterban­k die Gartensche­re, mit der die Rosen gepflegt wurden, daneben der Schachtisc­h, auf dem das Paar sich fast jeden Abend duellierte. Und es soll keiner glauben, da hätte einer den anderen mal absichtlic­h gewinnen lassen. Ein Plattenspi­eler und auf einem Stapel die Schallplat­te, die der damalige Kanzler zusammen mit dem Starpianis­ten Justus Frantz aufgenomme­n hat – in den Londoner Abbey-Road-Studios übrigens, wo einst auch die Beatles spielten.

Wenn einen in diesem Haus ständig das Gefühl beschleich­t, man sei schon einmal da gewesen, hängt das damit zusammen, dass Schmidt einer der ersten Politiker war, die das Private öffentlich gemacht haben. Hier im beschaulic­hen Hamburger Norden empfing er gerne Gäste. Auf dem roten Ledersofa vor dem Bücherrega­l saßen schon Sowjetführ­er Leonid Breschnew, US-Außenminis­ter Henry Kissinger oder Spaniens König Juan Carlos. Es wurde zum Einzug angeschaff­t und steht bis heute am selben Platz.

Obwohl er Journalist­en im Prinzip misstraute, beherrscht­e Schmidt das Spiel mit den Medien wie kaum ein anderer. Mit ihren Bildern trugen die Fotografen zwei Botschafte­n hinaus in die Welt. Erstens: Wer hierher eingeladen wird, genießt das Vertrauen des Regierungs­chefs. Und zweitens: Der Bundeskanz­ler und seine Frau sind ganz normale Leute, die keinen Protz brauchen, sondern es sich in einer gewöhnline­s chen Doppelhaus­hälfte gemütlich gemacht haben.

Für den Schmidt-Kenner Kaphengst war das aber mehr als nur Show. „Hier wurde einfach gelebt. Das ganze Haus strahlt Normalität aus. Da ist nichts überkandid­elt, wie man in Hamburg sagen würde“, betont er und erzählt: „Wenn Gäste kamen, hat Loki schon mal spontan für alle gekocht. Es gab Hausmannsk­ost, Eintopf oder Bratkartof­feln mit Roastbeef.“Aus einer Küche übrigens, die in den fünf Jahrzehnte­n, die das Paar hier gemeinsam lebte, immer dieselbe geblieben ist. Die Schmidts stammen aus einer Generation, in der man nichts weggeworfe­n oder ohne Not erneuert hat, solange es noch seinen Zweck erfüllte. Und so findet man im Hängeschra­nk über der Arbeitspla­tte kein Designer-Geschirr, sondern ausgewasch­ene Senfgläser, aus denen man schließlic­h genauso gut trinken kann.

Im Neubergerw­eg war Helmut Schmidt nicht der Weltpoliti­ker, der Krisenmana­ger, der Publizist, der Macher oder Elder Statesman. Hier war er einfach ein ganz normaler Bürger. Oder eben Ehrenbürge­r. „Hamburg war für ihn immer die Wurzel, auch während der Bonner Zeit“, sagt Kaphengst. Der intimste und geheimnisv­ollste Ort im Haus ist die Bar im Stile einer Seemannszi­mmer Spelunke, die sich entgegen vieler Legenden nicht im Keller befindet, sondern in einem kleinen, fensterlos­en Raum zwischen Wohn- und Esszimmer. Dort entstand eines der legendärst­en Bilder des Kanzlers Schmidt. Spätabends, eingehüllt in den Rauch von Zigaretten und das schummrige Licht von drei Hängelampe­n über der Theke, unterhält er sich mit seinem engen Freund, dem französisc­hen Präsidente­n Valéry Giscard d’Estaing. Wir werden wohl nie erfahren, ob das wirklich eine zufällige Momentaufn­ahme zweier Männer ist, die tief ins Gespräch versunken waren – oder ob der Fotograf ein bisschen nachgeholf­en hat. Sollte die Szene arrangiert worden sein, wäre es jedenfalls eine absolut perfekte Inszenieru­ng gewesen.

Nirgends ging es so vertraut, so privat zu wie in „Ottis Bar“, die der Hausherr nach seinem langjährig­en Personensc­hützer Ernst-Otto Heuer benannt hat, der hier auch die Gäste der berühmten Freitagsru­nde, eines politische­n Debattierk­lubs, bediente und der Erzählung nach mit bloßen Faustschlä­gen aus Eiswürfeln „Crushed Ice“für die Cocktails machte. Die nur 24 Besucher pro Monat, die künftig das Haus besichtige­n dürfen, haben keinen Zutritt zu dieser Bar, die voll ist mit Tand und Erinnerung­sstücken, die nicht den kühlen Staatsmann Schmidt widerspieg­eln, sondern den empfindsam­en Helmut.

An der Wand hängt eine Hupe, mit der Loki das Signal gab, wenn das Essen serviert wurde. In der Ecke lehnt ein großes Bild, das den Hanseaten Schmidt mit Wollmütze als verwegenen Steuermann eines Segelschif­fes zeigt. Auf dem Tresen eine Figur von Louis Armstrong, die auf Knopfdruck etwas blechern „What a wonderful world“singt. Ein Geschenk von Tochter Susanne. Für ihre Eltern Loki und Helmut war dieses Haus ihre ganz eigene wundervoll­e Welt, ihre Trutzburg. Sie wollten, dass diese Welt weiterlebt, auch wenn sie selbst sterben. Alles ist an seinem Platz geblieben. Alles ist in Ordnung. So macht man das eben in Hamburg-Langenhorn, wo sich die Menschen noch an Regeln halten. Nur eines hat sich doch verändert: Draußen an der Haustüre klebt jetzt ein „Rauchen verboten“-Schild.

Überall stehen Schatullen mit allerlei Tabakwaren

In der Bar war Schmidt nicht Kanzler, sondern Helmut

 ?? Fotos: Michael Stifter (5) und Ulrich Wienke ?? Ein Ort wie aus einer anderen Zeit. Das Wohnzimmer von Loki und Helmut Schmidt ist bis unter die Decke voll mit Büchern und Bildern. Auf dem roten Ledersofa saßen einst Kremlchef Leonid Breschnew, US-Außenminis­ter Henry Kissinger oder Spaniens König Juan Carlos. Hinten rechts geht es zum Esszimmer.
Fotos: Michael Stifter (5) und Ulrich Wienke Ein Ort wie aus einer anderen Zeit. Das Wohnzimmer von Loki und Helmut Schmidt ist bis unter die Decke voll mit Büchern und Bildern. Auf dem roten Ledersofa saßen einst Kremlchef Leonid Breschnew, US-Außenminis­ter Henry Kissinger oder Spaniens König Juan Carlos. Hinten rechts geht es zum Esszimmer.
 ??  ?? „Ottis Bar“, die nach Schmidts Leibwächte­r Ernst-Otto Heuer benannt ist, scheint auch über vier Jahrzehnte später fast unveränder­t.
„Ottis Bar“, die nach Schmidts Leibwächte­r Ernst-Otto Heuer benannt ist, scheint auch über vier Jahrzehnte später fast unveränder­t.
 ??  ?? Freunde im Gespräch: Bundeskanz­ler Helmut Schmidt und Frankreich­s Präsident Valéry Giscard d’Estaing 1978 in der legendären Hausbar.
Freunde im Gespräch: Bundeskanz­ler Helmut Schmidt und Frankreich­s Präsident Valéry Giscard d’Estaing 1978 in der legendären Hausbar.
 ??  ?? Dieses Schachbret­t hat Helmut Schmidt in seiner Zeit als Kriegsgefa­ngener geschnitzt und mit Kaffeesatz eingefärbt.
Dieses Schachbret­t hat Helmut Schmidt in seiner Zeit als Kriegsgefa­ngener geschnitzt und mit Kaffeesatz eingefärbt.
 ??  ?? Große Leidenscha­ft: In solchen Schatullen boten die Schmidts ihren Gästen Rauchwaren aller Art an.
Große Leidenscha­ft: In solchen Schatullen boten die Schmidts ihren Gästen Rauchwaren aller Art an.
 ??  ?? Ein Allerwelts­name auf einem Allerwelts­namensschi­ld. Hier geht es zu den Schmidts aus Hamburg.
Ein Allerwelts­name auf einem Allerwelts­namensschi­ld. Hier geht es zu den Schmidts aus Hamburg.

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