Jetzt versucht es May mit der Opposition
Brexit Premierministerin Theresa May und Oppositionschef Jeremy Corbyn beraten über einen Ausweg aus der Brexit-Sackgasse. Konservative Hardliner laufen dagegen Sturm
London Es konnte nicht nur, es musste als Zeichen verstanden werden, dass krachender Donner über Westminster rollte, als gestern Premierministerin Theresa May und Oppositions-Chef Jeremy Corbyn in der Downing Street aufeinandertrafen. So jedenfalls interpretierten Beobachter das für London ungewöhnliche Wetterphänomen, das parallel dazu losbrach. Bislang war die konservative Regierungschefin weniger dadurch aufgefallen, Bündnisse mit den Sozialdemokraten zu schmieden. Vielmehr richtete sie ihren Fokus auf die Brexit-Hardliner in den eigenen Parteireihen. Am Dienstagabend leitete die Konservative die dramatische Kehrtwende ein. May will nun doch mit Corbyn, den sie in der Vergangenheit als „gefährlichen Marxisten“bezeichnet hatte, über einen Weg aus der Brexit-Sackgasse beraten, um eine ungeordnete Scheidung ohne Austrittsdeal zu vermeiden.
Bevor Corbyn in der Downing Street erschien, schlug die Regierungschefin bereits während der Fragestunde im Unterhaus versöhnliche Töne an. „Wir beide wollen einen Austritt mit Abkommen sicherstellen, wir wollen beide Arbeitsplätze schützen, wir wollen beide die Personenfreizügigkeit beenden, wir beide erkennen die Bedeutung des Deals an“, sagte May. Der Labour-Chef vermied es, die Premierministerin bei ihrer Ansprache am Rednerpult anzusehen. Nicht nur May, auch Corbyn steht unter dem Druck seiner zerstrittenen Partei. Unterstützer eines neuen Referendums fordern, dass Labour sich nur auf einen Kompromiss mit May einigt, wenn sich die Regierung zu einer zweiten Volksabstimmung bereit erklärt. Einige bewerten Mays Angebot als Falle. Andere Abgeordnete pochen auf die Unverrückbarkeit des Labour-Kurses. Die Opposition plädiert für eine Zollunion mit der EU und eine Anlehnung an den Binnenmarkt. Wie sie sich das genau vorstellt, ist zwar unklar. Trotzdem, den Sozialdemokraten zufolge würde das Königreich eine engere Beziehung zur Staatengemeinschaft pflegen, als May dies bislang vorgeschlagen hatte.
Das ist ein Albtraum für die Brexit-Hardliner, die am liebsten alle Verbindungen zu Brüssel kappen würden. Dementsprechend aufgebracht zeigten sie sich über Mays Gesprächsangebot an die Opposition. Iain Duncan Smith, Ex-Vorsitzender der Tories und prominenter EU-Skeptiker, beschrieb es als „schockierenden Verrat am Brexit“. Zerfällt nun die Partei?
Insidern zufolge war es unausweichlich, dass May ihre Minister am Dienstagabend in der Downing Street eingeschlossen hatte, um sie davon abzuhalten, Details aus den vorangegangenen Gesprächen der Presse mitzuteilen. Sie wollte sich erst selbst an die Nation wenden, bevor das große Toben in Westminster beginnen sollte. May ahnte, wie die konservativen Europaskeptiker auf ihren Kurswechsel reagieren würden. Wut. Empörung. Rebellion. Es darf beinahe als Überraschung gewertet werden, dass bis gestern Nachmittag nur zwei Staatssekretäre zurückgetreten waren.
Auch das Kabinett ist völlig gespalten. Angeblich plädierten während der Marathonsitzung 14 Minister für einen ungeordneten EUAustritt ohne Abkommen oder eine kurze Verschiebung des Scheidungstermins. Zehn favorisierten einen langen Aufschub. Diese Option aber lehnt May ab, um zu verhindern, dass Großbritannien an den Europawahlen, die am 23. Mai beginnen, teilnehmen muss.
Ein Kommentator von Sky News meinte: Während die Hardliner nun zusehen, wie ihnen ihr Projekt entgleitet und stattdessen der Oppositionschef in die Downing Street geladen werde, „sollten sie sich daran erinnern, dass sie so nah dran waren und die Chance weggeworfen haben“. Tatsächlich fiel das zwischen Brüssel und London ausgehandelte Vertragspaket vor allem wegen den konservativen Meuterern drei Mal im Parlament durch. Den radikalen EU-Skeptikern ging der Brexit nicht weit genug. Nun könnten sie mit einer weitaus schwächeren Variante dastehen – oder aber ihr großes Ziel ganz aufgeben müssen.
Aus Brüssel hallten derweil positive Töne über den Kanal auf die Insel. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zeigte sich offen für eine Verschiebung auf den
22. Mai, falls das Unterhaus den Deal in den nächsten Tagen doch noch billigen sollte. Seine Bedingung dafür lautet, dass dies vor dem
12. April, dem derzeitigen BrexitTag, geschehe und das Abkommen von einer tragfähigen Mehrheit unterstützt würde. Die EU sei bereit, der politischen Erklärung zum künftigen Verhältnis zu Großbritannien, die anders als das Austrittsabkommen zwar richtungsweisend, aber rechtlich nicht bindend ist, eine „Dosis Flexibilität“hinzuzufügen.
Die endgültige Entscheidung über einen möglichen Aufschub liegt bei den Staats- und Regierungschefs der übrigen 27 Mitgliedstaaten, die bei einem Sondergipfel am 10. April über das weitere Vorgehen beraten wollen. Gewitter sind bislang nicht vorhergesagt.
Auch das Kabinett ist völlig zerstritten