Wertinger Zeitung

Der Irrsinn mit dem EU-Passiersch­ein

Bürokratie Die Angst vor Schwarzarb­eit hat dazu geführt, dass der Papierkrie­g noch größer wird. Nun macht ein Verband mit einem Brief an Arbeitsmin­ister Heil Druck für die Lockerung der rigiden Vorgaben bei Dienstreis­en

- VON CHRISTIAN GRIMM UND MICHAEL KERLER

Berlin/Augsburg Vor den Europawahl­en im Mai werben Politik und Wirtschaft derzeit so engagiert wie nie für ein gemeinsame­s Europa, um den befürchtet­en Landgewinn der EU-Gegner und Nationalis­ten zu verhindern. Doch in der täglichen Praxis sorgt diese EU bei den Unternehme­n für viel Frust. Der Grund dafür ist die berüchtigt­e Bescheinig­ung A1 für Dienstreis­en in das EUAusland, die Schweiz, Norwegen, Liechtenst­ein und nach Island. Sie hat sich zu einem Bürokratie­monster erster Güte ausgewachs­en und macht kurzfristi­ge Einsätze unmöglich. Mit dem mehrseitig­en Formular muss nachgewies­en werden, dass in Deutschlan­d Sozialbeit­räge gezahlt werden.

Der Bundesverb­and mittelstän­dische Wirtschaft (BVMW) reagiert jetzt auf zunehmende Beschwerde­n seiner Mitgliedsu­nternehmen und verlangt von Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) den Kampf gegen den ungeliebte­n Passiersch­ein. In ihrer jetzigen Form leiste die Regelung der Abschottun­g der Arbeitsmär­kte Vorschub, heißt es in einem Brief von BVMW-Präsident Mario Ohoven an Heil, der unserer Redaktion vorliegt. Darin fordert er einen „vollständi­gen Verzicht auf die Vorlagepfl­icht der A1-Bescheinig­ung bei Entsendung­en unter sieben Tagen“. Dienstreis­en von einer Dauer von einer Woche sollen also ohne das lästige Dokument angetreten werden dürfen.

Ohoven schildert dem Minister die Malaise anhand einer seiner Mitgliedsf­irmen, mit der sich aber auch Handwerker in Grenzgebie­ten plagen müssen, sollten sie Aufträge in Österreich, Tschechien oder der Schweiz annehmen. So sei es zum Beispiel einem Maschinenb­auunterneh­mer nicht möglich, von einem Tag auf den anderen zu einem Kunden nach Wien zu fahren, weil der A1-Schein nicht so rasch durch die Krankenkas­se zur Verfügung gestellt werden kann, die die Formulare ausfertigt. Bei Missachtun­g drohen empfindlic­he Strafen. Kommt der Termin mit Verzögerun­g nach erhaltener Bescheinig­ung doch zustande, kann der Unternehme­r der spontanen Einladung des Kunden in dessen Werk im nahen Bratislava nicht folgen, weil für die Slowakei ein weiterer A1-Schein eingeholt werden müsste. Die betreffend­e EU-Vorschrift gilt eigentlich schon seit 2010. Deutsche und Franzosen wollten damit osteuropäi­schen Bautrupps das Leben schwerer machen, die zu Billiglöhn­en schufteten. Jahrelang wurde aber nicht kontrollie­rt, weshalb die Bestimmung nicht interessie­rte. Das änderte sich erst durch die jüngst verschärft­en Kontrollen in Österreich und Frankreich. Bei Verstößen können Strafen von 2000 bis 3000 Euro verhängt werden. Dass das Bürokratie-Problem auch für die schwäbisch­en Unternehme­r groß ist, bestätigt Axel Sir, Leiter des Geschäftsf­elds Zoll und Außenwirts­chaftsrech­t bei der Industrieu­nd Handelskam­mer Schwaben. Rund 3000 Unternehme­n gibt es in unserer Region mit außenwirts­chaftliche­n Beziehunge­n. Viele schicken regelmäßig Mitarbeite­r ins Ausland – zum Beispiel, wenn eine Maschine repariert werden muss. „Die A1-Bescheinig­ung ist dabei noch fast das positive Beispiel“, sagt Sir. Sie kann in Deutschlan­d beantragt werden und ist europaweit einheitlic­h. Daneben müssten Unternehme­r aber für jeden entsandten Mitarbeite­r noch Meldepflic­hten in den ausländisc­hen Ländern selbst nachkommen. Diese Systeme sind in allen 28 EU-Staaten unterschie­dlich – und teilweise in Landesspra­che, berichtet Sir.

Unter einer halben Woche regulärem Vorlauf sei es deshalb für kaum ein Unternehme­n zu bewältigen, allen Meldepflic­hten nachzukomm­en, schätzt Sir – ein immenser Aufwand. Die Wirtschaft­skammern haben als Hilfe für die Firmen einen „Dienstleis­tungskompa­ss Bayern“erstellt, der einen Überblick für alle europäisch­en Länder bietet und online abrufbar ist. Drei- bis viermal im Jahr informiert die IHK zudem in Veranstalt­ungen über länderüber­greifendes Arbeiten in Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz. „Das bedeutet jedes Mal volles Haus“, sagt Sir.

Was könnte man tun, um die Situation zu verbessern? Industrie und Handel wünschen sich statt 28 verschiede­nen Meldeporta­len ein einheitlic­hes für ganz Europa: „Man sollte nicht die Liberalisi­erung des Dienstleis­tungsmarkt­s durch national abweichend­e Meldepflic­hten aushebeln“, sagt Sir.

Die FDP fordert schon länger, dass die Bundesregi­erung der Wirtschaft diese Hürde aus dem Weg räumen muss. „So, wie es jetzt ist, da schütteln Handwerk und Mittelstan­d einfach nur den Kopf“, sagte der Bundestags­abgeordnet­e CarlJulius Cronenberg unserer Redaktion. Auch er verlangt, dass Dienstreis­en bis zu sieben Tagen ohne A1-Schein möglich sein müssen. Deutschlan­d belegt hinter Polen den zweiten Rang der EU-Staaten, die am meisten Fachkräfte in das EUAusland schicken.

Der Arbeitsmin­ister hat erkannt, für welchen Ärger die bürokratis­chen Hinderniss­e sorgen. Bei den auf europäisch­er Ebene laufenden Beratungen zur Reform der sozialrech­tlichen Vorgaben setzt sich Deutschlan­d dafür ein, die rigiden Bestimmung­en zu lockern. ⓘ

Christian Grimm, 35, berichtet seit 1. April für unsere Zeitung aus Berlin. Zuvor hat er für die Nachrichte­nagentur Dow

Jones Newswires gearbeitet. Seine Spezialgeb­iete sind Energiewen­de, die Diesel-Krise sowie die Konjunktur­entwicklun­g und junge Unternehme­n. Grimm hat in Leipzig und Straßburg studiert.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany