Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (93)
In Warschauers Stube war die Luft wie ranziges Fett, der Professor fand die Streichhölzer nicht gleich und fluchte leise, endlich brannte die Gasflamme, da sahen sie einen Heerbann großer schwarzer Küchenschaben, die unter der Alkoventür herauskrochen und ekel um das Gestell mit dem Proviant wimmelten. „Gediegen“, sagte Etzel, stand eine Weile tiefsinnig, dann tränkte er ein Handtuch mit Spiritus, warf es über das Geziefer, wo es am dichtesten krabbelte, und als einige hundert betäubt dalagen, griff er zum Besen und kehrte sie seelenruhig zur Tür hinaus. „Kaffee?“fragte er. Warschauer nickte, und der Kocher wurde zum soundsovielten Male heute in Funktion gesetzt. Warschauer ging mit seinem Tambourschritt auf und ab, das Kreuz hohl, die Hände unter den Rockschößen, die Stirn ungewöhnlich finster. Ein Grammophon im dritten Stock spielte heiser krächzend einen Gassenhauer, Etzel summte den Text mit: „Fräulein
Len, schlafen gehn…“„Ich bitte, hören Sie doch mit dieser unanständigen Scheußlichkeit auf, Mohl“, sagte Warschauer pastoral, blieb stehen und sandte ihm einen zornigen Blick zu. „Auch recht“, gab Etzel zurück, „werd ich’s das nächste Mal fertig singen. Aber eine Liebe ist der andern wert, heißt es, so sagen Sie mir doch, Herr Professor… nein, ich bin nicht still… ist mir egal, wenn Sie auch noch so wütend dreinschaun, es muß jetzt… hätten Sie erst gar nicht angefangen. Wer A sagt, muß B sagen, tun Sie, was Sie wollen… jetzt haben Sie die Soße serviert, wie, und Braten soll’s keinen geben? Hören Sie zu, ich hab was drangesetzt… es handelt sich um… Herrgott, glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht, aber lassen Sie mich nicht so zappeln… das ist eklig, wissen Sie, eklig ist das von Ihnen…“Mit geballten Fäusten und blitzenden Augen hatte er sich vor Warschauer aufgepflanzt, als wolle er ihn niederboxen. „Tz, tz, tz,“machte Warschauer ironisch, „was diese Null, dieser Leonhart Maurizius, in Ihrem sonst so aufgeräumten Köpfchen für ’ne Unordnung angerichtet hat! Also, was wollen Sie wissen? Womit kann ich dienen? Nur nicht zuviel auf einmal, Junge. Wenn Sie mich löchern, ich bin imstande und gebe Ihnen was zum besten, daß Ihnen die Lust vergeht. I had a good time with you, my boy, you will have a bad time with me. Guter Junge, ahnungsloser Junge, plätschert mutwillig im lauen Wasser herum, kitzelt den Haifisch an der Flosse, kommen Sie her zu mir, Mohl, ich will Ihnen ein bißchen das Fell streicheln, kommen Sie augenblicklich her…“Der Golem. Die Golemstimme, schlaftrunken und lüstern. „Nein“, flüsterte Etzel und suchte hinter einem Bücherstoß Schutz. „Hasenfuß“, spottete Warschauer, „begreifen Sie nicht, daß Sie einen Mann von differenzierter Anlage vor sich haben? Ein Korn gröber und… ich warne Sie. Der Nachlaß des Feingehalts entzieht sich Ihrer Beurteilung. Gott sei Dank. Wäre das nicht der Fall, so wären Sie bereits eine verfaulte Frucht. Ich warne Sie vor denen mit dem edlen Augenaufschlag, vor den Griechenfrömmlern, vor den Priestern des neuen Rhythmus, den Esoterikern und Illuminaten, die bei ihren schwarzen Messen den hermaphroditischen Gott feiern. Diese Leute werden nicht unterlassen, Jagd auf Sie zu machen, der Kult hat Scharen von Anhängern gewonnen, aus einem einfachen Grund, sie wollen den Mars mit dem Eros verkuppeln, um ihn nach seiner grausamen Niederlage geheimbündlerisch zu stärken. Verschlagene Instinkte toben sich aus. Sie verstehn mich nicht? Um so besser. Von mir jedenfalls haben Sie nichts zu fürchten. Die Brücke zwischen uns beiden hat in dem Betracht nicht mehr Stoff als ein Regenbogen. Noch immer begriffsstutzig? Ah, es dämmert ihm was, Halleluja!“Er ging rasch auf Etzel zu, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, sah ihn durchbohrend an und küßte ihn auf die Stirn. Etzel rührte sich nicht. Es war das Menschenfresserische, gemildert durch eine Art intellektueller Hoheit. Dennoch lief es ihm kalt über den Rücken. „Also?“murmelte er obstinat. Warschauer grinste. „Das nenn ich die Situation ausnützen“, mokierte er sich, „nichts hat er im Kopf als das eine…“„Also?“beharrte Etzel kindisch und wild. „Nun ja“, erwiderte Warschauer ruhig, „wir mußten aneinander zerschellen, er an mir, ich an ihm.“
Er schritt überlegend auf und ab, die linke Hand im Nacken, den rechten Arm im Takt schwenkend wie ein Soldat. Das Wasserglas auf dem Tisch klirrte von der Erschütterung. Eigentlich sieht er furchtbar aus, fett und finster, dachte Etzel, während er mit aufgerissenen Sinnen lauschte. Es waren zunächst nur hingeworfene Bemerkungen. Manches klang wie Phrase, z. B. daß ihm in Maurizius die antipodische Natur begegnet sei. Jedoch als er es präzisierte, fielen grelle Schlaglichter auf die Beziehung. Es war tatsächlich ein Zusammenprall gewesen, aber die Stoßkraft lag mehr auf der Seite des eindringenden Körpers, der andere wurde nur aus seiner Passivität gerüttelt. Er hatte daher keine Wahl, als sich der Bewegung anzuschließen. „Es blieb mir nichts übrig, ich mußte ihn hinter mich, unter mich bringen, ich mußte ihn unschädlich machen.“„Warum denn?“fiel Etzel erstaunt ein, „Sie haben doch eben gesagt, daß er eine Null war?“Ohne sein Schreiten zu unterbrechen, streckte Warschauer den rechten Arm in die Luft. „Allerdings. Aber eine repräsentative Null. Eine Null an einer Stelle, wo sie eine gewaltige Ziffer bilden half. Das ganze öffentliche Leben setzt sich aus solchen Nullen zusammen. Jedenfalls war er eine Null mit beachtenswertem Anhang, außerdem eine begabte Null, eine glänzende Null, eine Null, von der man sicher sein konnte, daß sie mal in die Höhe stieg wie ein gefüllter Ballon. Aber das war nicht ausschlaggebend. Den Ausschlag gab… Passen Sie auf. Hier stand Waremme, Gregor Waremme: verwandelt. Ich hatte mir die Welt erobert, Position für Position. Ich hatte mich glücklich in ihr eingebaut, ich hatte mein Gefühl nach ihr gestimmt, ich hatte an den Menschen, die ich brauchte, eine Arbeit vollbracht, notabene, nur um sie von mir zu überzeugen, nur um sie an mich glauben zu machen, eine Arbeit, die ich noch zehn Jahre nachher in allen Nerven spürte. Man hat mir von Salvini erzählt, einem genialen Schauspieler. Sie haben vielleicht von ihm gehört, daß er nach jeder großen Rolle einen Kollaps erlitten hat. Einer meiner Freunde, ein Theaterregisseur, war mal Zeuge, wie er nach dem fünften Akt von Othello hinter den Kulissen bewußtlos zusammenbrach und ein Arzt sich anderthalb Stunden lang bemühte, ihn wieder ins Leben zu rufen. Es gibt, selbstredend, solche und solche Schauspieler. Manche sterben einen herzzerreißenden Tod auf der Bühne, und wenn der Vorhang fällt, reißen sie Zoten. Sie schaun mich wieder mal so naiv verwundert an, kleiner Mohl, das Gleichnis mit dem Schauspieler macht Sie offenbar stutzig.