Was wäre, wenn…
Medizin Mit einem Bluttest können Schwangere untersuchen lassen, ob ihr ungeborenes Kind das Down-Syndrom hat. Nun geht es um die Frage, ob das von den Krankenkassen bezahlt werden muss. Warum das eine Entscheidung über Leben und Tod sein kann
Landsberg Eine Doppelhaushälfte. Helle Möbel, offene Küche, im Wohnzimmer stapeln sich Kinderbücher. Die Wände sind geschmückt mit Familienfotos. Elternglück in Landsberg. Luis sitzt auf seinem grünen Hochstuhl und kaut zufrieden auf einem Keks. Die Händchen kleben, die Schokoschnute schmatzt. „Und jetzt wieder ein Stück Obst“, sagt Simone Rothdach und streckt ihrem Sohn einen Birnenschnitz hin. „Nein“, quäkt der Dreijährige. „Nein ist zurzeit sein Lieblingswort“, sagt Simone Rothdach und muss schmunzeln. Nein sagen, ausschließlich vom Feuerwehrmann-Teller essen, mit dem Papa wie ein Großer „High Five“machen und dann mit der Schwester zum Rutschen in den Garten gehen – was Dreijährige eben so machen. Doch Luis ist kein normaler Dreijähriger. Luis kam mit dem Down-Syndrom zur Welt.
„Natürlich ist es anstrengend, ein Kind mit Down-Syndrom zu haben“, sagt Simone Rothdach. Die 40-Jährige beschönigt nichts. Noch immer muss sie Windeln wechseln, Laufen lernte Luis erst mit zweieinhalb Jahren, direkt nach der Geburt wurde er am Darm operiert, es gibt immer wieder bange Stunden. Eines aber ist ihr wichtig: „Manches wird komplizierter, aber das Leben geht davon nicht unter, es bleibt weiter schön.“Und dann sagt sie einen Satz, der in den kommenden Monaten noch häufig diskutiert werden wird: „Die Diagnose Down-Syndrom ist kein Abtreibungsgrund.“
Genau um diesen so brutalen wie ehrlichen Kern geht es, wenn im Spätsommer der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken, das höchste Entscheidungsgremium im Gesundheitswesen, beschließt, ob ein Bluttest, der bei Ungeborenen ab der 10. Schwangerschaftswoche eine Behinderung diagnostizieren kann, von den Kassen bezahlt werden muss. Bereits seit 2012 ist die Anwendung auf dem Markt. „Praenatest“heißt die bekannteste, entwickelt wurde sie in Baden-Württemberg. Bislang mussten Schwangere den Test selbst bezahlen. Wird er Kassenleistung, könnte das Verfahren zu einem neuen Vorsorgestandard bei den Früherkennungsuntersuchungen werden. Und das ist mehr als eine bloße medizinische Fußnote, mehr als ein weiteres Detail im Gewirr der Krankenkassenleistungen.
Es ist eine Frage, die in ihrer ethischen Komplexität so groß ist wie nur wenige andere. Wird der gesellschaftliche Druck, ein gesundes Kind auf die Welt zu bringen, steigen? Werden sich Eltern von Kindern mit Down-Syndrom fragen lassen müssen, warum sie dieses Leben nicht verhindert haben – wo es doch so einfach erscheint? Wird ein positives Testergebnis zu noch mehr Abtreibungen führen? Wird es überhaupt noch Down-SyndromKinder geben? Wie schwer wiegt das Selbstbestimmungsrecht von Frauen? Wird der Test zum Fluch? Oder zum Segen? Es ist ein Dilemma. Die Worte „Selektion“und „Euthanasie“machen die Runde. Am Donnerstag will sich der Bundestag in einer Debatte mit dem Thema beschäftigen, fraktionsoffen soll sie sein. Es geht um nicht weniger als um Leben und Tod.
Simone Rothdach kann sich noch genau an ihr erstes Wort erinnern, als sie die Diagnose hörte: „Scheiße!“Was auch sonst? „Danach hatte ich nur noch ein Rauschen in den Ohren“, sagt sie. „Am liebsten hätte ich einen Schnaps getrunken – ging aber ja nicht, weil ich schwanger war.“Bei einer Routine-Ultraschalluntersuchung war ihrem Arzt aufgefallen, dass etwas anders war mit dem Baby. Zu Hause googelte sie die Symptome, das Wort DownSyndrom sprang ihr förmlich vom Bildschirm entgegen.
„Da bricht erst einmal die Welt zusammen“, erzählt sie. Wie kann das sein? Warum wir? Hat sich der Arzt vielleicht geirrt? Nur eines wusste sie ganz sicher: Eine Abtreibung kommt nicht infrage. In der 32. Woche war sie damals schon, knapp zwei Kilo wiegt ein Baby zu diesem Zeitpunkt, es hat Wimpern, vielleicht sogar ein paar Haare, die Ohrmuscheln haben ihre Form.
„Man muss die Dinge annehmen, wie sie sind, das rate ich allen, die sich ihr Designer-Baby basteln wollen“, sagt Tobias Rothdach, Vater des kleinen Luis. Es ist ein Rat, den er damals selbst gerne gehört hätte. Denn auch das will er nicht verheimlichen: „Ich schäme mich noch heute dafür, dass ich auch nur einen Gedanken an einen Schwangerschaftsabbruch verschwendet habe.“Wumms! Ein Satz, der sitzt.
„Für meinen Mann war die Vorstellung, ein behindertes Kind zu haben, schlimmer als für mich“, erinnert sich seine Frau. Tobias Rothdach fragte sich: Kann er dieses Baby genauso lieben, wie er seine gesunde Tochter Paula liebt? Heute weiß er: Er kann. Vielleicht potenziert die Sorge die Liebe sogar. Zum Liebes-Modus kommt der KampfModus. Dumme Sprüche jedenfalls will der 38-Jährige nicht hören, wenn es um seinen Sohn geht. Einmal habe ihn eine Frau angesprochen, ob sie nicht vor der Geburt von dem Gendefekt gewusst und warum sie nicht abgetrieben hätten. Ein anderes Mal musste sich Simone Rothdach fragen lassen, ob sie während der Schwangerschaft Alkohol getrunken habe. Übergriffigkeiten, die zeigen: Behinderung wird aller Aufgeklärtheit zum Trotz noch immer als Störfall betrachtet, der mit aller Macht vermieden werden muss. Toleranz? Pure Theorie!
Konstanz am Bodensee. Wie so häufig hat sich der Hochnebel wie eine milchige Glocke über die Stadt gelegt. Ein rostroter Bürobau im Industriegebiet. Daneben ein Möbelhaus, dahinter ein Fitness-Studio. Dass hier die Grundlage für eine Entscheidung über Leben und Tod gelegt wird, wissen nur die wenigsten, die hier vorbeifahren.
In den Anfangsjahren marschierten immer wieder Abtreibungsgegner vor dem Gebäude auf, irgendwann legte sich die Aufregung. In den Laborräumen von Lifecodexx wurde der „Praenatest“entwickelt. Auf seiner Homepage wirbt das Unternehmen offensiv für die Untersuchung, doch die Türen hält man lieber verschlossen. Auch auf ethische Debatten mag man sich nicht einlassen. Nur so viel ist Lifecodexx wichtig zu betonen: Der Test helfe nicht nur, Gendefekte zu erkennen – er könne werdende Eltern auch beruhigen. „Der Bluttest konnte die große Mehrheit der betroffenen Frauen entlasten, denn über 98 Prozent der durchgeführten Analysen ergaben ein unauffälliges Testergebnis und machten damit eine invasive Diagnostik mit dem Risiko einer Fehlgeburt in der Regel überflüssig“, erklärt das Unternehmen.
Das ist der größte Vorteil des „Praenatests“: Er ist ungefährlich. Bis vor wenigen Jahren war eine verlässliche Bestimmung einer Trisomie nur mit Hilfe einer Entnahme von Mutterkuchengewebe ab der zwölften Schwangerschaftswoche oder einer Fruchtwasseruntersuchung ab der 16. Schwangerschaftswoche möglich. Verfahren, die zur modernen Schwangerschaftsroutine gehören und im Risikofall von den Kassen übernommen werden – eine Selbstverständlichkeit, ein Fortschritt. Die Gesellschaft hat sich also schon längst entschieden, bei der Geburt kaum mehr etwas dem Zufall zu überlassen. Doch diese Eingriffe lösen bei zwei bis zehn von 1000 Schwangerschaften Fehlgeburten aus. Der „Praenatest“ist hingegen denkbar einfach und genau aus diesem Grund bei Frauen beliebt: Der Arzt braucht nur wenige Tropfen vom Blut der Mutter. Darin befinden sich Erbstücke des Fötus, diese werden untersucht. „Generell beträgt die Testgenauigkeit über 99 Prozent“, sagt Lifecodexx-Sprecherin Elke Setzer.
Seit seiner Einführung im August 2012 wurde die Anwendung bereits bei tausenden Schwangerschaften eingesetzt. „Wir haben rund 135000 Tests seit August 2012 durchgeführt, davon rund 75000 in Deutschland“, sagt Elke Setzer. Der Test wird weltweit in fast 50 Ländern angewandt. Der Bedarf nach der Untersuchung dürfte noch steigen. Denn das Risiko für Trisomien steigt mit dem Alter der Schwangeren – und das erhöht sich in Deutschland kontinuierlich. Im Schnitt sind Frauen beim ersten Kind heute 29,6 Jahre alt – 1980 waren sie noch 25,2 Jahre alt.
Unklar ist, ob die neuen medizinischen Möglichkeiten wirklich zu mehr Schwangerschaftsabbrüchen führen. Medizinische Indikationen sind nur in 3,9 Prozent der Fälle die Begründung für den Abbruch – die Mehrzahl der abgetriebenen Föten ist also gesund. Klar ist aber auch: Etwa neun von zehn Schwangeren lassen hierzulande nach Expertenschätzungen bei der Diagnose Trisomie schon heute eine Abtreibung vornehmen. In Dänemark bietet das öffentliche Gesundheitssystem allen Schwangeren seit 2004 einen Test bestehend aus Ultraschalluntersuchung und Blutprobe an. Seitdem ist die Zahl der mit Trisomie 21 geborenen Kinder laut der landesweiten Vereinigung Down-Syndrom erheblich gesunken. 2015 kamen in Dänemark nur noch 31 Kinder mit der Behinderung zur Welt.
Aber ist es nicht trotzdem das gute Recht von werdenden Eltern zu wissen, was mit ihrem Kind ist? Ist es wirklich der moralisch korrektere Weg, die Kassenfinanzierung des „Praenatests“abzulehnen, gegen Fruchtwasseruntersuchungen aber nichts einzuwenden? „Was ist denn die Alternative?“, fragt Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates. „Dass wir das Rad zurückdrehen und der Pränataldiagnostik komplett die Kassenfinanzierung entziehen?“Dabrock warnt eindringlich davor, den Bluttest nur in Schwarz-Weiß-Kategorien einzuordnen. Die Menschen müssten lernen, Ambivalenzen auszuhalten. Invasive Tests seien doch heute bereits Kassenleistung im Falle einer Risikoschwangerschaft. „Dann stellt sich für mich die Frage: Wenn wir Tests mit dem gleichen oder gar einem besseren medizinischen Ergebnis haben, welche hinreichenden Gründe sollte es dann geben, diese Tests als Kassenleistung zu verbieten?“, sagt Dabrock. „Das ist eine Frage von Ehrlichkeit.“Es dürfe auf Kosten von Ärmeren kein moralisches Exempel statuiert werden.
Und noch etwas sagt Dabrock: „Ein Abbruch ist für Frauen einer der existenziellsten Schritte ihres Lebens, auch wenn klar ist, dass sie das Kind nicht auf die Welt bringen möchten. Sich vorzustellen, dass eine Frau das leichtfertig machen könnte – auf diese Idee kann nur ein Mann oder eine männlich dominierte Institution kommen.“
Mainz, Fußgängerzone zwischen Rheingoldhalle und Dom. Alexander Scharf hat hier seine Räume für vorgeburtliche Untersuchungen. Scharf ist nicht nur Präsident des Berufsverbands der Pränatalmediziner, sondern auch Arzt. Ein Mann der Praxis – im wahrsten Sinne des Wortes. Vor ihm sitzen Frauen und Männer, die sich Sorgen machen. „Die Eltern, die in meine Praxis kommen, wollen keine Abtreibung,
Manches wird komplizierter, doch das Leben bleibt schön
Das Rad der Medizin lässt sich nicht zurückdrehen
sie sind sich nur im Klaren darüber, dass sie ein erhöhtes Risiko haben“, sagt Scharf. „Keine Schwangere macht sich die Frage nach einem potenziellen Abbruch leicht.“
Trotzdem findet er es gut, dass die Debatte Fahrt aufnimmt und dass sie laut geführt wird. Die Gesellschaft stehe vor einer sehr prinzipiellen Entscheidung, einem tiefen Einschnitt – und doch seien viele auf dem falschen Weg. Denn es gehe längst nicht mehr darum, ob der Bluttest eingeführt wird, das ist längst geschehen. Es gehe um die Frage, ob wirklich die Gemeinschaft der Versicherten für diese Maßnahme aufkommen muss. Wie er dies für sich selbst beantwortet? „Ich sehe da keine Notwendigkeit“, sagt Alexander Scharf. Der Preis für den Bluttest sei längst in einem finanziellen Bereich angekommen, der für die wenigsten Eltern ein echtes Hindernis darstellt. Anfangs kostete er noch 2000 Euro, inzwischen liegt der Preis unter 200 Euro. Überhaupt: Der „Praenatest“könne vieles, aber niemals völlige Gewissheit verschaffen. Ohne begleitende Untersuchungen wie Ultraschall oder invasive Tests sei das Verfahren nicht sinnvoll. Und noch etwas fordert Scharf: Der Test soll erst nach der zwölften Schwangerschaftswoche vorgenommen werden – jener Grenze, vor der Abtreibungen straffrei möglich sind. Eine psychologische Beratung zum Down-Syndrom sei sonst kaum mehr möglich.
Für die Landsbergerin Simone Rothdach steht fest: „Die Eltern werden unter Druck gesetzt, solche Tests werden doch heute schon angepriesen, als seien es Gutsle.“Sie streicht sich über den Bauch. Noch zwei Wochen, dann kommt Kind Nummer drei auf die Welt.
Die üblichen Untersuchungen hat sie diesmal machen lassen, einfach nur, um zu wissen, was auf sie zukommt. Auf den Bluttest verzichtet sie. „Ich bin diesmal ängstlicher, weil ich weiß, dass nicht alles gut gehen muss“, sagt sie und muss dann doch wieder schmunzeln: „Wenn wir ein weiteres Kind mit DownSyndrom bekommen, fange ich an, Lotto zu spielen.“