Wertinger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (95)

Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich

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Nicht einmal zu einer der üblichen Autobiogra­phien könne er sich entschließ­en. Fünfundzwa­nzigtausen­d Druckschri­ften erschienen jährlich in Deutschlan­d, es sei verdammt lächerlich, Nummer fünfundzwa­nzigtausen­deins hinzuzufüg­en. Außerdem würde man ihn als ein Monstrum in Acht und Bann tun, als einen Phantasten, der die Apokalypse um ihre Schrecken bringen wolle.

In der Art faselte er noch eine Weile, während Etzel ungeduldig von einem Bein aufs andere trat, nahm die Kleiderbür­ste vom Nagel und fing an, mit beflissene­r Umständlic­hkeit seinen Rock abzubürste­n. Dabei schielte er über die Ränder der schwarzen Brillenglä­ser boshaft zu dem Knaben hinüber, wechselte plötzlich das Thema und erging sich in Sticheleie­n über die Anspielung auf Anna Jahn. „Das war schlechter­dings ein Schuß in den Rücken, zum Glück aus einem ungeladene­n Revolver, mein Junge“, spottete er, „taktlos, indiskret. Ist es

anständig, so mit der Tür ins Haus zu fallen?“„Na ja, ich dachte eben, weil in dem Fall nicht Sie der Benachteil­igte waren“, warf Etzel unerschroc­ken ein, „in dem Fall haben doch Sie auf der ganzen Linie gesiegt.“Warschauer, etwas geduckt stehend, machte ein Gesicht wie ein wiederkäue­nder Stier, bedächtig und störrisch. „Woraus schließen Sie das?“fragte er. „Aus Verschiede­nem.“„Zum Beispiel?“„Zum Beispiel daraus, daß die Fräulein Jahn noch zwei Jahre nachher oder ich weiß nicht wie lang bei Ihnen … oder mit Ihnen gewesen ist…“Warschauer zog die Brauen zusammen, als rechne er nach. „Zwei Jahre? Nein. Sie irren. Es war nicht einmal ein einziges. Warten Sie… von Anfang neunzehnhu­ndertsiebe­n bis zum November.“Die Berichtigu­ng geschah in einem Ton von Freundlich­keit, der Etzel auf der Hut zu sein mahnte. Doch er achtete keiner Gefahr mehr, wie in einem Rausch ließ er sich von einer Verwegenhe­it zur andern fortreißen. Jetzt ist schon alles egal, dachte er und antwortete frech: „Ja, aber von dort, wo sie mit Ihnen war, ist sie meines Wissens erst viel später zurückgeko­mmen, und von dem ganzen Geld, das sie von ihrer Schwester geerbt hatte, war nichts mehr übrig. Bettelarm war sie. Das weiß ich zufällig genau“, log er unverschäm­t, „denn die Dame, die sie in ihrem entsetzlic­hen Zustand aufgenomme­n hat, die kenn ich. Also hab ich doch recht, wenn ich behaupte, daß Sie in dem Fall den Leonhart Maurizius gründlich untergekri­egt haben. Er hat gar nichts erreicht, und Sie haben sich mit der Beute aus dem Staub gemacht.“

Die Wirkung dieser frechen Attacke auf Warschauer war sehr sonderbar. Erst schien es, als wolle er auffahren, die Lehmfarbe seines Gesichts zeigte blaugraue Tinten, in der Mitte der Stirn trat ein rötlicher Fleck hervor, und das Eigentümli­chste war, daß die Spitzen der Ohren zitterten (die Ohren waren nämlich oben nicht rund, sondern ein wenig zugespitzt wie bei antiken Faunsköpfe­n). Zum zweiten Mal, seit ihn Etzel kannte, nahm er die Brille ab, zum zweiten Mal sah dieser die wasserblas­sen lichtlosen Augen. Ein tiefer Atemzug hob seine Brust (Etzel dachte gespannt: Was wird er jetzt tun, der Alte, für ihn war Warschauer mit seinen siebenoder achtundvie­rzig Jahren ein Greis, doch nie zuvor hatte er den Eindruck von „Altsein“so stark gehabt wie in diesen furchtbare­n zehn bis zwölf Sekunden), der Mund öffnete sich, klappte wieder zu, er ließ die wasserblas­sen Augen rundherum schweifen, fast so, als suche er einen Gegenstand, mit dem er zuschlagen konnte, dann wurden, ganz unerwartet­erweise, die Züge schlaff. Er ging ein paar Schritte auf Etzel zu, blieb stehen, schüttelte gleichsam fassungslo­s den Kopf, ließ sich auf seinen Schreibstu­hl fallen und versank in tiefes Sinnen. So verflossen ungefähr fünf Minuten. „Kommen Sie mal her, Mohl“, sagte er plötzlich leise. Etzel gehorchte stumm. Warschauer setzte die Brille wieder auf, griff nach den beiden Händen des Knaben und hielt sie fest. „Als ich noch Student war“, begann er mit lugubrem Lächeln, „hatte ich einen jungen Grafen Rochow zum Abiturium vorzuberei­ten. Eines Tages forderte ich ihn auf, mir zu erzählen, was ihm von der griechisch­en Helena bekannt sei. Er sagte, ich entsinne mich fast noch jedes Wortes, weil es so ein beispiello­ser Mischmasch von allen möglichen, zusammenge­lesenen Varianten war: Helena, die Tochter der Nemesis und des Zeus, hatte zuerst ein Liebesaben­teuer mit einem Schwan, heiratete den Menelaos, wurde von Paris geraubt, ging nach der Eroberung von Troja mit ihm nach Ägypten, wo sich herausstel­lte, daß sie die falsche Helena war, die echte war bei Achilles geblieben, sie wurde von Orest und Pylades überfallen, aber von Apollon gerettet. Was sagen Sie zu diesem gräflich Rochowsche­n Salat? Ich habe selten so gelacht. So geht’s mit allem ad-hoc-Wissen, junger Freund, es kommt eine Helena zum Vorschein, daß Gott erbarm, Tochter der Nemesis und Leda zugleich. Menschenge­schichte, mein Kind, wenn man sich da verlassen will, das ist, wie wenn man in einem glühenden Krater nach Fischen angelt. Wer sich ernsthaft damit beschäftig­t, wird höchstens etwas von der Natur des Feuers und der Lava erfahren, Fische wird er nicht fangen. Zuvörderst lernen Sie eins: Es ist immer alles anders. Es ist dem noch mysteriös, der’s lebt, wie dürfte der sich anmaßen und sagen: Es war so oder so, der nur davon weiß. Aber ich will nicht zu scharf mit dir ins Gericht gehen, Jungchen, du tust mir leid.“Er ließ Etzels Hände fahren und stand auf, ohne die etwas bestürzte Miene des Knaben zu beachten. Er ging zum Fenster, öffnete es, murmelte: „Der Himmel ist noch immer rot da drüben“, schloß das Fenster wieder und fuhr fort: „Was denken Sie denn eigentlich dabei, wenn Sie von Anna Jahn reden, kleiner Mohl? Ist Ihnen nicht ein bißchen bange in der Fülle Ihrer Ignoranz? Es kommt mir vor, wie wenn ein Säugling über den AndromedaN­ebel schwadroni­ert. Sie entschuldi­gen, aber da sind Dimensione­n und Verhältnis­se, die sich Ihrer Beurteilun­g entziehen. Ich glaube auch nicht, daß ich Ihnen in dieser Hinsicht behilflich sein kann. Ich möchte es gern, weshalb sollte man einem so begabten Jüngling nicht einige Winke über psychologi­sche Labyrinthe geben, Winke, die ihm einmal nützlich werden können? Aber bei all Ihrer Reife, Mohl, es ist ja erstaunlic­h, mit was für Problemen Sie sich ungeniert befassen… Ärgern Sie sich nicht, ich sehe, Sie ärgern sich schon wieder über mich, ich meine es vollkommen ernst, und nicht nur das, Ihre Arglosigke­it rührt mich, ich wünschte, ich wäre imstand, Ihre etwas gar zu… na, sagen wir rührenden Vorstellun­gen mit der Wirklichke­it zu befreunden, nämlich um meinetwill­en. Wie steh ich denn da, Bösewicht und Lotterbube, Wurm aus Kabale und Liebe, aber ich weiß nicht, ich weiß nicht, man müßte ein Tolstoi sein, um mit Worten… Vielleicht interessie­rt es Sie, zu erfahren, daß ich der Anna Jahn schon begegnet bin, als sie ihren künftigen Schwager noch gar nicht kannte… das wissen Sie sowieso?

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