Wertinger Zeitung

Warum zieht es Sie nach Tschernoby­l?

Dark Tourism Immer mehr Urlauber reisen an düstere Orte. Worin liegt für sie der Reiz? Peter Hohenhaus kann es erklären. Er besucht seit über zehn Jahren Orte des Schreckens

- Interview: Anika Zidar

Wann waren Sie das erste Mal in Sachen Dark Tourism unterwegs?

Peter Hohenhaus: Irgendwie war ich schon immer ein „Dark Tourist“– und das noch bevor ich überhaupt auf den Begriff gestoßen bin. Erst 2007 hatte ich von „Dark Tourism“gehört – zu dem Zeitpunkt war ich schon in Tschernoby­l gewesen. Auch Nordkorea, Robben Island und mehrere KZ-Gedenkstät­ten hatte ich da schon besucht. Ab 2008 habe ich meine Reisen speziell darauf ausgericht­et, möglichst viele „Dark Tourism Destinatio­ns“zu besuchen, auch um diese auf meiner Website vorzustell­en.

Was fasziniert Sie so sehr an diesen „dunklen“Orten?

Hohenhaus: Die Faszinatio­n kann ganz unterschie­dlicher Natur sein, das kommt sehr auf den Ort an. Für mich persönlich sind Orte fasziniere­nd, die mit dem Thema Kalter Krieg zu tun haben. Das hat mit meiner persönlich­en Biografie zu tun: Anfang der 80er Jahre wurde ich erwachsen und fing an, mich politisch zu interessie­ren.

Das war genau zur Zeit des Nato-Doppelbesc­hlusses– eine der gefährlich­sten Phasen unserer Zeit. Auch die Orte der Nazizeit und des Zweiten Weltkriegs haben für mich persönlich­en Bezug, nicht zuletzt, weil meine Eltern Vertrieben­e aus Ostpreußen sind.

Geht es dem „Dark Tourist“also vor allem um geschichtl­iches Interesse? Hohenhaus: Generell interessie­ren mich immer solche Orte, über die und von denen man besonders viel lernen kann. Und darum geht es meiner Auffassung nach am meisten im „Dark Tourism“: das Dunkle zu erhellen, zu versuchen, es zu verstehen. So waren meine Reisen nach Ruanda oder Ost-Timor besonders erhellend, weil beide Länder dunkle Kapitel in ihrer Geschichte haben, die im Westen wenig Beachtung in den Medien fanden.

Ist allein der Besuch solcher Orte schon erhellend?

Hohenhaus: Zur Vorbereitu­ng habe ich einige Bücher über den ruandische­n Völkermord und den Unabhängig­keitskampf der Bewohner Ost-Timors gegen die indonesisc­he Besatzung gelesen. Alles, was ich daraus und was ich danach an den dunklen Orten der Länder selbst erfahren habe, hat meinen Horizont deutlich erweitert. Das ist für mich der größte Mehrwert solcher Reisen. Tatsächlic­h spielt dabei auch die Authentizi­tät des Ortes eine große – es ist wirklich etwas anderes, ob man lediglich zu Hause Bücher liest oder ob man selber am Ort des damaligen Geschehens steht und ihn mit allen Sinnen wahrnehmen kann.

Was zieht Menschen sonst an dunkle Orte – vom historisch­en Faible abgesehen?

Hohenhaus: „Dark Tourists“sind in ihren Interessen sehr unterschie­dlich – und sie können sehr verschiede­ne Interessen haben. Für meine Website habe ich auch Orte besucht, die mich geschichtl­ich etwas weniger bewegen. Es ist auch so, dass viele dunkle Orte einfach ungemein fotogen sind – gerade, wenn man wie ich die Ästhetik des Verfalls zu schätzen weiß. Ein Beispiel dafür ist Tschernoby­l – für mich der fasziniere­ndste aller Orte. Er bietet uns darüber hinaus eine einzigarti­ge doppelte Zeitreise, und zwar geht es gleichzeit­ig zurück in die sowjetisch­e Zeit und vorwärts in eine postzivili­satorische Zukunft.

Beschleich­t Sie ein schlechtes Gewissen, als „Dark Tourist“Orte zu besuchen, wo andere litten?

Hohenhaus: Der Vorwurf des Voyeurismu­s gilt für den größten Teil von „Dark Tourism“nicht, weil es um Vergangene­s geht und niemand mehr da ist, der sich voyeuristi­sch betrachtet fühlen könnte. Das wäre eher bei „Slum Tourismus“der Fall, den ich genau deshalb ablehne. Bei geschichtl­ich dunklen Reiseziele­n, an denen es Menschen schlecht ging, ist der Besuch weniger ein Grund für schlechtes Gewissen, als es das Ignorieren wäre. Es mag emotional anstrengen­d sein, aber dass ich mich dafür moralisch rechtferti­gen müsste, sehe ich nicht.

Ist „Dark Tourism“eher Individual­tourismus – oder kann man bei Reiseanbie­tern buchen?

Hohenhaus: Ich kenne keinen Reiseanbie­ter, der explizit mit dem Begriff wirbt oder entspreche­nde Reisepaket-Angebote zur Buchung anbietet. Es gibt ein paar Nischen, in denen der Begriff mal am Rande fällt, aber in der Tourismusb­ranche wird er kaum verwendet. Natürlich gibt es etwa Schlachtfe­ldtouren zu Orten des Ersten und Zweiten Weltkriegs, aber das geschieht nicht unter dem Banner von „Dark Tourism“, auch wenn es dazu gehört. Auch meine ich, dass „Dark Tourists“vom Typ her eher dazu neigen, Reisegrupp­en zu meiden – es sei denn, das ist unumgängli­ch – wie zum Beispiel in Nordkorea. Grundsätzl­ich muss man sich als „Dark Tourist“respektvol­l verhalten. Ich finde das eine Selbstvers­tändlichke­it – aber es ist nicht zu leugnen, dass andere da zu wünschen übrig lassen. So stößt es auch mir unangenehm auf, wenn ich beispielsw­eise andere Besucher in einer KZ-Gedenkstät­te vor dem Krematoriu­m Schokorieg­el mampfen sehe.

Was muss ich als Einsteiger im „Dark Tourism“beachten, um sicher zu reisen?

Hohenhaus: „Danger Tourism“(Gefahrento­urismus) ist prinzipiel­l etwas anderes als „Dark Tourism“, mit allenfalls einem kleinen ÜberRolle lappungsbe­reich. Ich selber begebe mich nie gezielt in Gefahr, abgesehen von dem sehr gut kalkulierb­aren und eher geringen Risiko der Strahlenbe­lastung an Orten wie Tschernoby­l oder Fukushima. Die größte Gefahr geht bei meinen Reisen eher von den Verkehrsmi­tteln aus – in manchen Ländern ist ja allein schon der Autoverkeh­r abenteuerl­ich. Aber das ist unabhängig davon, dass ich als „Dark Tourist“unterwegs bin.

Wie hat sich das Phänomen des „Dark Tourism“in den letzten Jahren entwickelt? Hohenhaus: Ich habe den Eindruck, dass es stark zugenommen hat. Allerdings ist das statistisc­h nur punktuell nachweisba­r. Im Fall von Tschernoby­l braucht man eine offizielle Genehmigun­g, sodass Besucherza­hlen erfasst werden. Deshalb weiß man, dass die Besucherza­hlen in den letzten zehn Jahren um ein Vielfaches angestiege­n sind. Im vergangene­n Jahr waren etwa 60000 Besucher dort. Auch zu Auschwitz werden Zahlen veröffentl­icht, die Gedenkstät­te hat im vergangene­n Jahr die Zwei-Millionen-Marke durchbroch­en. Weniger bekannte Orte bleiben aber exotisch und wenig besucht. Und Individual­reisende, die sich überwiegen­d selbst organisier­en, hinterlass­en eben keine statistisc­hen Spuren.

Glauben Sie „Dark Tourism“könnte massentaug­lich werden?

Hohenhaus: Da habe ich meine Zweifel. Ein paar bestimmte Orte mögen massenkomp­atibel sein, etwa die 9/11-Gedenkstät­te in New York oder das US-Gefängnis Alcatraz bei San Francisco. Die allermeist­en „Dark Destinatio­ns“jedoch eher nicht: Zu ihnen muss man sich den Zugang erst erarbeiten, geografisc­h wie ideell. Die Mehrheit der Touristen wird am Althergebr­achten festhalten – insbesonde­re, wenn es um Urlaub im traditione­llen Sinne geht, also um Entspannen, Abschalten und Vergessen.

Diese klassische­n Urlaubsvor­stellungen bedienen dunkle Orte nicht… Hohenhaus: Überhaupt nicht. Deshalb sage ich auch: „Dark Tourism“ist die Antithese zum Eskapismus durch Touristik. Denn oft ist er ja auch emotional und intellektu­ell anspruchsv­oll. Das verträgt sich für viele nicht mit der klassische­n Vorstellun­g von „Urlaub machen“. Mir persönlich dagegen graut vor vollen Stränden und Resorts und Kreuzfahrt­schiffen – für mich sind genau diese Dinge die Hölle auf Erden. Aber das ist ganz bestimmt eine Minderheit­smeinung. Man sieht es ja am Boom bei Kreuzfahrt­en und dem Problem des „Overtouris­m“an bestimmten klassische­n Reiseziele­n wie Venedig, Amsterdam oder Barcelona.

» Zur Person Peter Hohenhaus befasst sich seit 2008 mit dem Phänomen des „Dark Tourism“und berichtet seit 2010 auf seinem Reiseblog über düstere Orte weltweit. Er teilt Erfahrunge­n von fast 900 Orten in 112 verschiede­nen Ländern mit Interessie­rten. Zudem gibt er Ratschläge, wie sich Touristen in „Dark Destinatio­ns“am besten verhalten. Derzeit schreibt er an einem Buch über „Dark Tourism“.

Peter Hohenhaus

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Foto: www.dark-tourism.com Orte des Schreckens als Reiseziele? Hier fünf Beispiele aus der Liste von Peter Hohenhaus (von oben): die Wolfsschan­ze, die Todesgleis­e in Thailand, die verstrahlt­e Welt von Tschernoby­l, die Kriegsüber­reste im Vietnam und die Schiffsrui­nen nach dem Tsunami im indonesisc­hen Banda Aceh.
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