Wertinger Zeitung

Libyen steht da, wo es schon oft stand: am Abgrund

Erst hilft die Nato, Gaddafi zu stürzen. Als das Land im Chaos versinkt, verliert der Westen das Interesse. Was ein Bürgerkrie­g für Europa bedeuten würde

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger-allgemeine.de

Aus der Vogelpersp­ektive betrachtet ist die Situation in Libyen gar nicht so komplizier­t. In der Hauptstadt Tripolis sitzt die von Fajis al-Sarradasch angeführte, von den Vereinten Nationen anerkannte Regierung. Im Westen und Süden des Landes hat der frühere Vertraute des Diktators Muammar al-Gaddafi, General Khalifa Haftar, seine Machtbasis. Jetzt stehen die Truppen des 75-Jährigen bereit, in den Kampf um Tripolis zu ziehen.

Doch es ist wie bei einem Ameisenhau­fen. Erst aus der Nähe sieht man das wilde Gewusel. Ameisen bewegen sich allerdings nach einem festen Plan. In Libyen hingegen haben auch Experten längst die Übersicht verloren, wer gerade mit welcher Miliz verbündet ist. Keinen Zweifel gibt es darüber, dass ein neuer blutiger Bürgerkrie­g in

dem nordafrika­nischen Land droht, wenn die Schlacht um Tripolis nicht im letzten Augenblick doch noch gestoppt werden kann.

Noch immer wird darüber gestritten, wie Libyen heute aussehen würde, wenn die Nato 2011 nicht zum Sturz von Gaddafi, den der Westen über Jahre hofiert hat, entscheide­nd beigetrage­n hätte. Sicher ist, dass es ein fataler Fehler war, sich nach dem Ende des Regimes aus der Verantwort­ung zu stehlen und zuzusehen, wie das Land im Chaos versinkt.

Ohne zentrale Autorität, ohne Gesetze besannen sich die Libyer auf eine Struktur, die hunderte von Jahren alt ist: die Stammesord­nung. Die Fliehkräft­e, die Gaddafi nur mit Unterdrück­ung und skrupellos­en Geheimdien­sten bändigen konnte, entfaltete­n sich. Nach 2011 brachen alte Gegensätze wieder auf, wurden offene Rechnungen zwischen den Stämmen beglichen. Die einst mächtige Terrormili­z IS, die zuletzt auch in Libyen an Boden verloren hatte, könnte wieder erstarken.

Parallel dazu versuchen ausländisc­he Mächte mit Waffen und militärisc­hen Beratern Einfluss auf die Kriegspart­eien auszuüben. Nicht zuletzt, weil unter libyschem Wüstensand noch jede Menge Öl liegt.

General Haftar wird massiv von Ägypten und Russland unterstütz­t. Das ist auf den ersten Blick erstaunlic­h, wenn man weiß, dass der Warlord, der einige Jahre in den USA lebte, lange als Werkzeug des CIA und als antiislami­stischer Hoffnungst­räger des Westens galt. Haftar ist nur ein Beispiel dafür, dass die Suche nach leicht kontrollie­rbaren Handlanger­n ein Vabanquesp­iel ist. Auf diese Weise verkommt Politik zu einer perfiden Lotterie – nur dass die Libyer den höchsten Einsatz zahlen. So, wie es auch schon in Syrien war.

Wenn sich die USA aus einem Konflikt zurückzieh­en, ist meist Russland nicht weit, um in die Lücke zu stoßen. So ist es jetzt wieder in Libyen. Der frühere US-Präsident Barack Obama nannte es 2016 den größten Fehler seiner Amtszeit, dass er nach dem Sturz Gaddafis nicht für stabile Verhältnis­se in dem Krisenstaa­t gesorgt habe.

In Europa wurde zuletzt öffentlich nur dann von Libyen Notiz genommen, wenn es darum ging, ob und wie Flüchtling­e daran gehindert werden, von der Küste des Landes gen Norden abzulegen. Was auf Europa zukommen könnte, wenn aus den Scharmütze­ln wieder ein Bürgerkrie­g wird, ist unabsehbar.

Seit Jahresbegi­nn ist Haftar auf dem Vormarsch, im Süden nahm er große Ölfelder und zwei Städte in seinen Besitz. Die Weltöffent­lichkeit registrier­te kaum, dass das fragile Gleichgewi­cht der Kräfte zu kippen begann. Im Gegenteil: UN-Generalsek­retär Antonio Guterres sprach angesichts von bevorstehe­nden Verhandlun­gen über Wahlen in Libyen von einem „Moment der Hoffnung“. Doch nur wenige Tage später steht Libyen da, wo es schon so oft stand: am Abgrund.

Unter dem Wüstensand liegt jede Menge Öl

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