Hat Wertingen ein Verkehrsproblem?
Entwicklung Durch die Hauptverkehrsader der Zusamstadt fahren täglich tausende Fahrzeuge. Eine Ortsbegehung
Wertingen Eine fünfköpfige Familie überquert nach einigem Warten die Hauptstraße, um zum Drogeriemarkt Müller zu gelangen. Dafür schlängeln sich die Mutter samt Kinderwagen und ihre drei weiteren Kinder durch die Autos hindurch, die schon um die Kurve herum Richtung Amtsgericht stehen. Etliche Schüler machen das genauso. Wenige Meter weiter die Straße entlang lädt ein Laster ab, was zu einem Stau führt, denn von der anderen Straßenseite kommen gleich zwei Busse angefahren. Ein Radfahrer steigt ab und weicht auf den Gehweg aus. Ein Senior mit Gehhilfe scheint der sich ruckartig bewegenden Autoschlange nicht zu trauen. Er schaut mehrmals nach links und rechts, wechselt dann aber doch nicht die Straßenseite.
Szenen wie diese kann man derzeit an jedem beliebigen Werktag mittags in der Wertinger Kernstadt beobachten. Die letzte Verkehrsmessung der Stadt Wertingen von 2016 ergab, dass sich durchschnittlich etwa 8500 Fahrzeuge am Tag durch die Hauptverkehrsader der Stadt bewegen. Diese trägt verwirrenderweise gleich fünf Straßennamen auf etwa einem Kilometer Fahrstrecke. Wer sich mit den Anwohnern unterhält, erfährt viel von deren täglichen Problemen mit dem Stadtverkehr.
Von Osten kommen die Autofahrer zunächst auf die Augsburger Straße, und dort am Haus der Familie Baur vorbei. Der Verkehr vor Alexander Baurs Haustür ist so stark, dass er manchmal links überholt wird, wenn er mit seinem Auto auf den Hof abbiegen will, erzählt er. Seine Schwester Katharina Bernrieder ist vor kurzem Mutter geworden. Sie sagt, dass sie sich kaum noch mit dem Kinderwagen aus der Haustür heraus traut. Denn dort seien zunehmend Radfahrer unterwegs. Ein solcher ist erst kürzlich mit ihrem Vater Jens Baur zusammengestoßen, der im Rollstuhl sitzt. „Wenn wir die Radfahrer fragen, warum sie auf dem Gehsteig unterwegs sind, sagen alle: Weil ich mich auf der Straße nicht mehr sicher fühle“, sagt Katharina Bernrieder. Die Familie betrachtet die Entwicklung der Verkehrssituation in der Stadt mit Sorge. Es fehle der Stadt an einem schlüssigen Gesamtkonzept, wie die Verkehrsströme in der Innenstadt gelenkt werden und die Situation der Fahrradfahrer verbessert werden könne.
Etwa 200 Meter westlich beginnt der Streckenabschnitt, der „Hauptstraße“heißt und direkt auf den Marienbrunnen zuführt. An diesem muss man in einer Linkskurve vorbei, hier heißt die Straße „Am Marktplatz“. Wiederum wenige Meter weiter heißt sie „Schulstraße“und führt am Amtsgericht und am Rathaus vorbei. In diesem machen sich Bürgermeister Willy Lehmeier und Stadtbaumeister Anton Fink viele Gedanken über die Zusamstadt und das steigende Verkehrsaufkommen. Sie erzählen von einem „Feldversuch“, der vor kurzem stattgefunden hat. Zwei Wochen lang fuhren zahlreiche Schulbusse direkt die Stadthalle an und nahmen dort Schüler auf. Das habe punktuell zu einer deutlichen Verbesserung der Situation geführt. Experiment soll bald zum Dauerzustand werden.
Lehmeier weiß um die Situation in der Zusamstadt. Einerseits sei der rege Verkehr ein Zeichen für die Attraktivität des Städtchens, das derzeit bei der Einwohnerentwicklung einen regelrechten Boom erlebt. Doch bringt Wachstum auch infrastrukturelle Herausforderungen mit sich. Um diesen gerecht zu werden, will Lehmeier durch viele kleine Schritte ein passendes Ganzes entwerfen. So hat der Stadtrat erst kürzlich den Anstoß für das Carsharing in Wertingen gegeben, welches auf lange Sicht helfen könnte, den Verkehr in der Stadt zu reduzieren. Der Bürgermeister wünscht sich beispielsweise, dass in zahlreichen Nebenstraßen die Parkplätze besser genutzt werden würden. Mit nur wenigen Metern Laufweg mehr könnte sich mancher Besucher der Innenstadt eine lange Suche nach einem Parkplatz sparen. In einer der kommenden Stadtratssitzungen soll derweil auch über verkehrliche Maßnahmen beraten werden. Um aktuelle Zahlen zur Verkehrsbelastung zu bekommen, führt die Stadt derzeit wieder Verkehrsmessungen durch.
Kurz nach dem Rathaus wird die Schulstraße schließlich zur Dillinger Straße. Dort wohnt Siegfried Keil, der gemeinsam mit fünf weiteren Parteien eine gemeinsame Stellfläche und damit eine Ein-und Ausfahrt nutzt. Und diese hat es in sich, denn nach links ist sie nur schlecht einsehbar, und die Autofahrer dürfen hier 50 fahren. Viele sind noch schneller unterwegs, sagt Keil. „Gerade morgens, wenn es pressiert.“
Er wünscht sich einen Sichtspiegel auf der anderen Straßenseite, oder eine Tempo-30-Zone, um die Ausfahrt aus dem Hof sicherer zu machen. Denn mehrmals habe es schon fast gekracht. Seine Nachbarin hat zwei kleine Kinder. Erst vor kurzem ist ein Autofahrer so schnell von links gekommen, dass es nur um Haaresbreite nicht zu einem Unfall gekommen sei. Sie zitterte minutenDas lang so stark, dass sie nicht weiterfahren konnte, erzählt sie. Dazu kommt noch das Problem, dass die Anwohner mit der Familie Baur teilen: Auch sie berichten von zahlreichen Fahrradfahrern, die mit hoher Geschwindigkeit auf dem Gehsteig fahren.
Ein Spiegel auf der anderen Straßenseite der Einfahrt kostet rund 1000 Euro. Doch den will keiner bezahlen, weder der Hausbesitzer noch die Stadt, obwohl die Polizei bestätigte, dass dieser wohl zur Verkehrssicherheit beitragen würde. Die Stadtverwaltung argumentiert, dass das selbe Argument für sehr viele Stellen angewendet werden könne – baut man dort einen Spiegel, könnten zahlreiche Bürger ähnliche Ansprüche äußern. Denn einen Unfall hat es in jüngerer Vergangenheit ín der Kurve nicht gegeben. „Ich frage mich, ob erst etwas schlimmes passieren muss, das mal etwas getan wird“, so sieht es Siegfried Keil.
Die Wertinger Polizeistation steht am Ortsende der Dillinger Straße. Polizeihauptkommissarin Martina Guß kann die Sorgen der Bürger nachvollziehen. Die Verkehrssituation in der Zusamstadt sei stellenweise durchaus problematisch. Dass Fahrradfahrer sich auf der Straße nicht sicher fühlten und auf die Gehsteige auswichen, diese Einschätzung teilt die Polizistin. Durch steigendes Verkehrsaufkommen sei viel gegenseitige Rücksichtnahme gefragt. Die Unfallzahlen in der Zusamstadt seien niedrig – doch das ist für Guß keine Selbstverständlichkeit. „Es ist manchmal erstaunlich, wie wenig passiert“, sagt die Polizistin.