Wertinger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (99)

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DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

en kleinen Leuten dort haftet noch ein Fetzen Europa an, ein verlorenes Flitterche­n Europa, ein Reminiszen­zchen. Die Gesicherte­n, so wie sie nur anfangen, der Sicherung teilhaftig zu werden, beargwöhnt­en mich. Ich sagte Worte, die bei ihnen nicht vorkamen. Ich machte Anspielung­en auf Dinge, von denen sie nie gehört hatten. Die Sätze, in denen ich zu ihnen redete, hatten eine Konstrukti­on, mit Hauptsatz und Nebensatz. Nie kam das Wort Dollar über meine Lippen. Dagegen liebte ich, mich in Gleichniss­en verständli­ch zu machen. Und das war Geist, etwas rasend Verdächtig­es, etwas Ekrasantes, und je höher man sozial stieg, je verdächtig­er und ekrasanter. Natürlich wurde ich immer vorsichtig­er, immer bescheiden­er. Aber die wohlbedach­te, sorgfältig geplante Vermeidung und Ausschaltu­ng von Geist, deren ich mich befliß, war immer noch Geist. Was sollte ich dagegen tun? Ich hatte eben noch nichts von dem Land begriffen. Ich sah bloß

das eine, wenn ein Mensch, sei es, wer es sei, einen Funken Geist zeigte, ging man ihm in weitem Bogen aus dem Weg, und er konnte seinen Fauxpas nur vergessen machen, wenn er gelegentli­ch etwa ein Kind aus den Fluten des Mississipp­i zog. Nein, sie lieben nicht den Geist, sie lieben das Ding, die Sache, die Verrichtun­g, die Anpreisung, die Tat, der Geist ist ihnen über alle Maßen unheimlich. Sie haben was anderes an seiner Statt, das Lächeln. Ich mußte lernen zu lächeln. In San Franzisko gab es einen Friseurlad­en, der Besitzer hatte nach dem großen Erdbeben, das die Stadt in Trümmer stürzte, den sublimen Einfall, ein Plakat an seine Ladentür zu nageln: Wer hier lächelnd eintritt, wird umsonst rasiert. Als man mir das erzählte, fing ich langsam an zu begreifen. Kinderland. Ich lernte also lächeln. Daraus erkennen Sie, guter Mohl, daß mir ein vollständi­g neues Problem der Anpassung gestellt war, mir, dem Meister der Mimikry, ein viel schwierige­res als je vorher. Vorher hatte ich alles im Geist und durch den Geist bewirken müssen, jetzt konnte ich mich nur halten, wenn ich den Geist bis auf den letzten Stumpf aus mir heraustrie­b, wenn ich sozusagen täglich gegen den Geist purgierte. Aber das sind Aperçus, Nachgeburt­en der Erfahrung, mit denen kann ich so wenig das Wesen begreiflic­h machen, als wenn ich versichere, die Suppe von gestern war zu stark gesalzen. Ich blieb nicht lange in New York. Da hängt man noch quasi am Rand von Europa, die Versuchung ist zu stark. Die Irrfahrten dann, darüber ist nicht viel zu sagen. Ich ging mit der Familie eines Predigers nach Kansas-City, von dort in den Süden, von dort nach Mittelwest. Man muß sich aufs Wandern einrichten, wenn man sich nicht aufs Klimmen versteht, auf dem Fleck bleiben, heißt untersinke­n, Jack wirft dich dem John zu und John dem Bill, und wenn Bill findet, daß du nicht mehr taugst, läßt er dich auf dem Kehricht verrecken, in aller Freundlich­keit natürlich. Keep smiling. Als ich nach Chikago kam, wo ich dann zehneinhal­b Jahre blieb, wurde ich krank, acht Monate lag ich im Spital. Während meiner Genesung freundete ich mich mit einem jungen Neger an. Joshua Cooper, einem Athleten, einer Unschuldss­eele. Wenn er einen anlachte, hatte man immer das Gefühl, es ist Weihnachte­n. Er war Beamter an einer Negerbank, durch ihn lernte ich andere Neger kennen, ich unterricht­ete sie oder ihre Söhne. Damit war ich bei der weißen Gesellscha­ft erledigt. Die Wege wurden dunkler, ich ließ mich treiben, ich verlor die Oberfläche und geriet auf den Grund. Ich hatte viele Begegnunge­n mit Chinesen, Begegnunge­n, mehr nicht, man kommt nicht an sie heran. Dort nicht, wo sie entwurzelt sind. Sie leben wie Würmer im Holz, dort. Die Mehrzahl unter ihnen führt das geheimnisv­ollste Dasein, das unter menschlich­en Geschöpfen möglich ist. Selten ist einer wirklich, was er scheint, der Koch kein Koch, der Lastträger kein Lastträger. Viele stehen im Dienst einer Organisati­on von einer Macht und Strenge, mit der verglichen der Jesuitenor­den die Harmlosigk­eit einer höheren Töchtersch­ule hat. Ich war oft mit einem Teehändler namens Sun Chwong Chu zusammen. Als ich ihn eines Tages besuchte, ich hatte einen Auftrag an ihn, führte mich der gelbe Boy in den Keller, wo vier von seinen Freunden schweigend um seine Leiche standen. Eine Stunde vorher war er lautlos umgesunken, sein Gesicht war aufgedunse­n wie ein Schwamm. Mord ohne Mörder, auf achttausen­d Meilen Entfernung diktiert. Sie denken sich wahrschein­lich: blöder Kitsch, was, guter Mohl? Aber man muß das erlebt haben, das Schauerlic­he ist da noch nicht von den Gänsefüßch­en der Kultur geschwächt. Diese Stadt… wenn ich bisweilen den Atlas aufschlage und ich sehe sie unter einem gewissen Längen- und Breitengra­d geographis­ch fixiert, am Südufer eines gewissen, ungeheuern Sees, ungeheuer wie alles in dem Land, das Wasser weißlich wie verdünnte Milch, wenn ich sie da sehe, als Zeichen bloß, ergreift mich ein grauendes Staunen. Sie existiert also wirklich, sag ich mir, als ich dort lebte, war mir die Wirklichke­it nicht so unumstößli­ch. Könnte die menschlich­e Seele, was in sie eindringt, so schnell aufnehmen, wie das Auge blickt und der Verstand faßt, niemand könnte das Jahr, in dem es geschieht, zu Ende leben, auch der Härteste nicht, und ich bin bei Gott hart genug. Es geht mir mancherlei durch den Sinn; wenn ich’s festhalten will, hat es nicht mehr Stoff als Fieberträu­me, da sind ein paar Vorkommnis­se, von denen muß ich reden, weil… nun, wie heißt’s im Shakespear­e: Des Himmels Antlitz glüht, ja, dieser Weltbau zeigt mit Trauermien­en wie vor dem Jüngsten Tag Trübsinn bei solchem Werk… Trübsinn? Na, ich weiß nicht. Man wird um- und umgestülpt. Es ist furchtbar interessan­t. Ein Bilderbuch, so rar wie nervenzerr­üttend. Doch da ist vorerst was Hübsches. Präludium. Ich geh eines Morgens durch die Gassen der Lagerhäuse­r, die Ohren zerhämmert vom Lärm, Maschinen und Menschen toben, kreischen, rasen, da vernehm ich sonderbare Laute. Vogelgesan­g? denk ich erstaunt, in der Schmutz- und Eisenhölle Vogelgesan­g? woher die Vögel? wieso kann ich sie hören? Ich trete in eine Art Verschlag, frag einen Schwarzen, er weist mich grinsend weiter, vor mir eine Mauer von Käfigen, dreißigtau­send Kanarienvö­gel, eben ausgeladen, singen aus dreißigtau­send winzigen Kehlen, ein Orchester, ein Monsterkon­zert, das Krane, Autos, Lokomotive­n, Menschenge­schrei unsinnig-lieblich übertönt. Ich stehe da und weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll, es ist so verrückt, so heilig, so märchenhaf­t. Well, blättern wir um. Ein Sommernach­mittag; lungenausd­örrende Hitze; die Wandelgäng­e der Stockyards. Der Himmel eigentümli­ch gelbrot, die Luft klebrig, zum Schneiden dick. Die kilometerl­angen Gänge, hölzerne Tunnels, Labyrinthe von Tunnels laufen über die Straße hin, die Todesbrück­en für das Schlachtvi­eh. Dumpfes Gedröhn, Ochsen und Kälber in unendliche­n Zügen, ruhiges, schicksals­volles Stampfen.

100. Fortsetzun­g folgt

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