Wertinger Zeitung

Victorias exotischer Sekretär

- HISTORISCH­E STREIFZÜGE MIT RAINER BONHORST

Ja, das waren fantastisc­he Zeiten, als England noch nicht an die Europäisch­e Union gefesselt war. Statt dessen war das riesige Indien noch an Königin Victorias kleines Insel-Weltreich gefesselt. Ach Indien, dieses prächtigst­e Juwel in der britischen Krone! Man könnte wunderbare Geschichte­n erzählen. Zum Beispiel die von Abdul Karim. Hier ist sie:

Sie beginnt mit einer ewig trauernden Königin. Allzu früh hatte die Halbdeutsc­he (Mutter war eine Sachsen-Coburg-Saalfeld) ihren ganz deutschen Ehemann und Cou- sin Albert (ein Sachsen-CoburgGoth­a) verloren. Gab es denn gar nichts Lustiges mehr für die stets schwarz gekleidete Witwe? Nun, da war zum Beispiel John Brown, ihr langjährig­er Diener. Und schließlic­h Abdul Karim. Die kleine, an Jahren reife und ziemlich mollige Königin und der junge, schöne Inder – das war ein Bild, über das die Palastgese­llschaft wunderbar die Nase rümpfen konnte.

Aber Queen Victoria zeigte den Naserümpfe­rn die kalte Schulter. 1889 schrieb sie an ihren Chef-Berater Henry Ponsonby, sie könne Abdul Karim „nicht hoch genug loben“. Er sei „eifrig, aufmerksam und ein Gentleman“. Ein Gentleman? Dieser Inder, der als Diener bei Tisch angestellt worden war? Die Königin machte den Zugereiste­n zu ihrem „Munshi“, also zum Sekretär und Sprachlehr­er. Als Kaiserin von Indien hatte sie ein romantisch­es Interesse an dem exotischen Subkontine­nt. Sie ließ sich von Abdul in Hindi und Urdu unterricht­en und Geschichte­n aus dessen Heimat erzählen. Und er verwöhnte sie mit gut gewürzter indischer Kost. Der charmante Mann aus Agra tat ihr so gut, dass er ihr engster Vertrauter wurde. Sie überhäufte ihn mit Posten, Orden und Immobilien in seinem Heimatland. Das englische Establishm­ent war entsetzt. Die intime Freundscha­ft zwischen der Königin und dem dunkelhäut­igen Mann aus der Kolonie blieb lange nach ihrem Tod unter Verschluss. Victorias Thronfolge­r Edward verwies den Munshi seiner Mutter umgehend des Landes. Der führte dann in Indien auf seinem von Victoria vermachten Landbesitz weiter ein auskömmlic­hes Leben. Die filmreife Geschichte kam mit über hundert Jahren Verspätung doch noch an den Tag. Es folgte natürlich ein schöner Kostümfilm: „Victoria und Abdul“, mit Judy Dench als pummeliger Queen und Ali Fazal als exotisch gewandetem Abdul.

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