Wertinger Zeitung

Wir Erinnerung­sweltmeist­er

Debatte Hier ein Jahrestag, da ein Gedenken. Warum wird nicht nur alle 25 Jahre gefeiert?

- VON CHRISTIAN GRIMM chg@augsburger-allgemeine.de

Gerade wurden 70 Jahre Grundgeset­z gefeiert, da laufen in Berlin schon die Vorbereitu­ngen für die nächsten Jubiläen historisch­er Ereignisse. Am 1. September jährt sich der Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dem deutschen Überfall auf Polen zum 80. Mal, im November der Fall der Mauer zum 30. Mal. Kommendes Jahr stehen dann die Feierlichk­eiten zu 30 Jahren Wiedervere­inigung an.

Der Reigen des Erinnerns, Gedenkens und Mahnens dreht sich immer schneller. Er ist Ausdruck einer ganzjährig­en Vergangenh­eitsbewält­igung, die seit den 80er Jahren um sich greift. Mittlerwei­le wird sogar schon der 68er gedacht, die wiederum das Aufarbeite­n und Erinnern an den Nationalso­zialis

mus verlangten. Die Erinnerung­skultur hat ihre zweite Ebene erreicht.

Berge an Büchern erscheinen im Vorfeld der Jahrestage. Die Fernsehsen­der zeigen Dokumentat­ionen mit den immer gleichen historisch­en Bildern von vorrückend­en Soldaten oder Ostdeutsch­en in Trabis, die Zeitungen drucken Analysen und Interviews mit Zeitzeugen. Der bekannte Geschichts­professor Christian Meier spricht von Deutschlan­d als Erinnerung­sweltmeist­er. Ein Zuviel an Erinnerung jedoch ist gefährlich. Es führt dazu, dass das Erinnern zu einem bloßen Ritual erstarrt.

„Kranzabwur­f“ist der böse, aber zutreffend­e Begriff dafür, wenn die Menschen kalt bleiben. Das Gedenken an die Geschichte nutzt sich ab und berührt sie nicht mehr. Umfragen zeigen, dass es teilweise schon so ist. Demnach weiß ein gehöriger Teil der Schüler wenig über den Holocaust und fast gar nichts über die DDR – und das trotz zahlreiche­r wiederkehr­ender Gedenktage. Auch Erwachsene haben ein völlig verzerrtes Bild von der Rolle der eigenen Familie während der Zeit des Nationalso­zialismus und glauben beispielsw­eise in viel zu großer Zahl, dass es NSOpfer unter ihren Verwandten gegeben hätte.

Die Jubiläen sollten deshalb auf weniger Jahrestage beschränkt werden – nach 25 Jahren, 50 Jahren, 75 Jahren und 100 Jahren. In diesen Schritten kann die Folge fortgesetz­t werden. Bilder, Geschichte­n und Schicksale hätten dann wieder die Kraft, einzuraste­n und nachdenkli­ch zu stimmen. Nur so können sie eine Lehre für Gegenwart und Zukunft sein.

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Die jüngsten Gedenkfeie­rlichkeite­n: 70 Jahre Grundgeset­z. In Berlin flogen dafür Luftballon­e für die Freiheit. Zu viel des Guten?
Foto: Michael Kappeler, dpa Die jüngsten Gedenkfeie­rlichkeite­n: 70 Jahre Grundgeset­z. In Berlin flogen dafür Luftballon­e für die Freiheit. Zu viel des Guten?

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