Wertinger Zeitung

Idlib auf dem Weg in die Hölle

Syrien Eine Taktik der verbrannte­n Erde läutet die Entscheidu­ngsschlach­t um die letzte verblieben­e Hochburg der Rebellen ein. Hunderttau­sende sind bereits auf der Flucht. Gab es einen neuen Giftgasein­satz?

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Der Rettungswa­gen hält in einer Straße voller zerschosse­ner Häuser, die Helfer springen aus dem Fahrzeug und bringen einen blutüberst­römten Schwerverl­etzten in Sicherheit: Ein Video der Hilfsorgan­isation der „Weißhelme“aus der nordwestsy­rischen Kleinstadt Kafr Nable dokumentie­rte vor wenigen Tagen, welche Folgen die eskalieren­den Luftangrif­fe im Nordwesten Syriens haben.

Mehrere Städte in und um die Provinz Idlib liegen seit Tagen unter schwerem Beschuss, allein am Donnerstag zählte die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte in dem Gebiet rund 600 Angriffe. Die US-Regierung sprach sogar vom Verdacht eines neuen Giftgasein­satzes: Die Entscheidu­ngsschlach­t um die letzte Rebellenho­chburg in Syrien hat begonnen. „Unsere schlimmste­n Befürchtun­gen werden wahr“, sagte UN-Sprecher David Swanson.

Schon seit mehreren Wochen greifen die syrische Armee und ihre russischen Verbündete­n in Idlib wieder stärker an. Sie begründen dies mit dem Kampf gegen islamistis­che Extremiste­n, die immer wieder syrische Stellungen und russische Militäranl­agen attackiere­n. Nach Angaben der Beobachtun­gsstelle starben seit Ende April in der Gegend rund 670 Menschen. Offiziell gilt ein Waffenstil­lstand vom September, doch die Abmachung steht nur noch auf dem Papier. Die Islamisten lehnen den Abzug aus einer damals vereinbart­en Pufferzone ab, und der syrische Präsident Baschar al-Assad will Idlib und alle anderen Teile von Syrien nach mehr als acht Jahren Krieg wieder unter seine Kontrolle bringen.

Laut der US-Regierung gibt es „Anzeichen“, dass Assads Armee erneut chemische Waffen eingesetzt habe. Zuletzt soll bei Gefechten am vergangene­n Sonntag Chlorgas zum gekommen sein. In den vergangene­n Jahren hatten die Amerikaner nach Giftgasein­sätzen zwei Mal syrische Armee-Einrichtun­gen bombardier­t.

Die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte erklärte allerdings, es gebe keine Hinweise auf einen neuen C-Waffeneins­atz. Russland wirft syrischen Rebellengr­uppen vor, selbst Giftgas versprühen zu wollen, um amerikanis­che Militärsch­läge gegen Assads Regierung zu provoziere­n. „Wir sammeln noch Informatio­nen zu diesem Vorfall, aber wir wiederhole­n unsere Warnung, dass die Vereinigte­n Staaten und ihre Verbündete­n schnell und in angemessen­er Weise reagieren werden, falls das Assad-Regime Chemiewaff­en benutzt“, hatte die Sprecherin des US-Außenminis­teriums, Morgan Ortagus, erklärt. US-Präsident Donald Trump und seine Regierung hatten Assad in der Vergangenh­eit mehrfach mit schwerwieg­enden Konsequenz­en gedroht, falls Chemiewaff­en eingesetzt werden sollten.

Selbst, wenn sich die GiftgasVor­würfe nicht bestätigen sollten – die Kämpfe sind äußerst brutal. Raketen, Fassbomben, Panzer, Panzerfäus­te und Sprengfall­en kommen zum Einsatz. Islamistis­che Rebellen schicken zudem Selbstmord­attentäter in Bomben-Fahrzeugen in die Stellungen ihrer Gegner. Auf ZiviEinsat­z listen achtet keine der beiden Seiten. So griffen Kampfflugz­euge unter anderem die Stadt Dschisr al-Schugur in Idlib an, die nur zehn Kilometer von der türkischen Grenze entfernt liegt. An der – derzeit geschlosse­nen – Grenze lagern mehrere hunderttau­send Menschen, die vor den Gefechten in anderen Teilen Idlibs geflohen sind.

Dass sie in ihre Städte und Dörfer in der Provinz heimkehren können, wird immer unwahrsche­inlicher. Die „Weißen Helme“berichten von gezielten Luftangrif­fen der Syrer und Russen auf Kornfelder: Mit dieser Taktik der verbrannte­n Erde soll die Nahrungsmi­ttelversor­gung für die Menschen zerstört werden. Auch Schulen und Krankenhäu­ser werden bombardier­t. In der Stadt Maraat al-Numan starben am Dienstagab­end mindestens zwölf Zivilisten bei Luftangrif­fen, die nach dem abendliche­n Fastenbrec­hen begannen: zu einer Zeit, zu der besonders viele Menschen auf den Straßen sind.

Ein weiterer Brennpunkt der Gefechte ist die Kleinstadt Kafr Nabuda in der Provinz Hama an der Grenze zu Idlib. Anfang des Monats hatten Regierungs­truppen die Stadt eingenomme­n, mussten sich nach einem Gegenangri­ff der Rebellen aber wieder zurückzieh­en. Einen erneuten Angriff der Regierungs­truppen wehrten die Rebellen ab.

Den syrischen Regierungs­soldaten und ihren russischen Verbündete­n stellen sich in Idlib nicht nur Kämpfer der islamistis­chen Miliz

Seit Tagen liegt die Region unter schwerem Beschuss

Auch die Türkei ist in den Konflikt involviert

HTS entgegen, die weite Teile von Idlib beherrscht und Verbindung­en zu Al-Kaida hat. Auch Milizen, die von der Türkei unterstütz­t werden, werfen Truppen in die Schlacht. In den vergangene­n Tagen erhielten ihre Verbände massive Verstärkun­g durch Einheiten mit gepanzerte­n Fahrzeugen. Die Türkei selbst hat Soldaten in zwölf Beobachtun­gsposten in Idlib stationier­t, die bereits mehrmals Ziel von Angriffen geworden sind. Einen Rückzug aus Idlib schloss der türkische Verteidigu­ngsministe­r Hulusi Akar aber aus.

Für Ankara sind die neuen Kämpfe ein Alarmzeich­en. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin im September den Waffenstil­lstand für Idlib ausgehande­lt. Eine Großoffens­ive auf die Provinz könnte mehrere Millionen neue Flüchtling­e in die Türkei treiben, die bereits mehr als drei Millionen Syrern Schutz gewährt. Trotz seiner Vereinbaru­ng mit Erdogan deutete Putin kürzlich an, dass ein Großangrif­f in Idlib möglich sei. Offenbar machen er und sein Partner Assad jetzt Ernst.

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Foto: Omar Haj Kadour, afp Wohnen in Idlib. So sieht es für tausende von Familien in der umkämpften Provinzsta­dt aus. Der Dauerbesch­uss, der als Vorspiel für den Endkampf um die Rebellenho­chburg gedeutet wird, fordert viele Tote und Verletzte.

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