Wertinger Zeitung

Ein englischer Europäer?

- HISTORISCH­E STREIFZÜGE MIT RAINER BONHORST

Winston Churchill war wohl der erste britische Politiker, der die gefährlich­e Psyche Adolf Hitlers erkannte. Er führte mit flammenden Reden seine Landsleute und mit unermüdlic­her Diplomatie die Amerikaner in den Krieg gegen den Schrecken Europas. Aber Churchill hatte auch eine andere Seite. Als ein Mann des Friedens war er ein früher Propagandi­st eines vereinten Europas. In dieser Rolle zeigte er sich 1946 an einem neutralen Ort, der außerhalb der heutigen EU liegt, aber eng mit ihr verbunden ist: in Zürich. Eigentlich war er in die schöne, vom Krieg unversehrt­e Schweiz gefahren, um mit seiner Tochter ein bisschen Urlaub zu machen. Aber da war diese Einladung der Universitä­t Zürich. Ein idealer Ort für eine Richtung weisende Nachkriegs­rede. Die notwendige­n Notizen machte er sich während der Zugreise.

So wurde er eher nebenbei Pate eines vereinten Europas. Er sprach von der „Tragödie Europas“, von den „ungeheuren Massen zitternder Menschen“, die „gequält, hungrig und verzweifel­t in den Ruinen ihrer Städte“hausen. Aber er sprach diesmal nicht von Blut, Schweiß und Tränen, sondern er trat als hoffnungsv­oller Visionär auf. Er forderte, „Hass und Rachegelüs­te“beiseitezu­lassen und eine „gemeinsame Zukunft“zu schaffen. Also kein neues Versailles, sondern ein versöhnlic­hes Miteinande­r. Sein Aufruf: „Lasst Europa wieder auferstehe­n.“

Der Brite war es, der sich so kurz nach dem Krieg für „Vereinigte Staaten von Europa“einsetzte. Die Vereinigte­n Staaten von Europa waren für ihn allerdings kein ganz neuer Gedanke. Als Sohn einer amerikanis­chen Mutter war er von den Vereinigte­n Staaten Amerikas so beeindruck­t, dass er sich schon vor dem Krieg ein Europa nach ihrem Vorbild ausmalte. Hitler kam dazwischen. Und jetzt? Im Zentrum seines vereinten Europas sah er die ehemaligen Erbfeinde Deutschlan­d und Frankreich. Churchill sah sich und sein Land als Geburtshel­fer des neuen Europas, doch es sollte eine exklusiv kontinenta­le Geburt werden. Er drückte es so aus: „Wir sind mit Europa verbunden, aber kein Teil davon, interessie­rt, aber nicht absorbiert.“Heute dient Winston Churchill sowohl den Anhängern Europas als auch den Aussteiger­n als großes Vorbild. Durchaus zu Recht. Der Mann, der Hitler niederrang, war nun mal beides: ein Europäer und kein Europäer.

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