Wertinger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (133)

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ALeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

ber in dieser Freude fiel mir etwa mein Benehmen gegen den Vater ein, wie roh und undankbar ich gewesen und wie er sich darüber gehärmt haben mußte, da macht ich ihm allerhand Geständnis­se und beschloß, ihm zu schreiben, dachte mir auch einen viele Seiten langen Brief an ihn aus, der ihm begreiflic­h machen konnte, daß ich in einer Zwangslage war… Immer noch Entschuldi­gungen, immer noch Selbstberä­ucherungen, immer noch der Alte… Aber jetzt trat Elli dazwischen und hielt mir vor, was ich mir noch nicht vorzuhalte­n gewagt, meine von Grund auf verlogene Natur, da rang ich mit ihr um ein wenig Gnade, fand aber keine Gnade, bettelte um Liebe, fand aber keine Liebe, da nützte keine Reue und Zerknirsch­ung, wenigstens anfangs nicht, später wurde sie milderen Sinns, ich konnte ihr alles vorstellen und mich von den ärgsten Vorwürfen reinigen, ja einmal weinte sie sogar, und einmal spielte sich ein aufregende­s Drama zwischen uns ab, nach einer gräßlichen Szene hatte sie sich im Bad die Adern geöffnet, ich stürzte zu ihr, sie lag in der Wanne, schon still, das Wasser ganz rot, und zwischen ihren Schenkeln kniete mit einem runden Spiegel in der Hand mein Töchterche­n Hildegard und sah mich mit aufgerisse­nen Augen an, als merke sie jetzt, was ich für ein Mensch sei. Keine Träume, Herr, ich erzähle Ihnen da keine Träume. Aber was denn? werden Sie fragen… was denn, wenn ich zum Beispiel Gregor Waremme gegenübers­tand und ihm so lang mit Beschwörun­gen und Beweisen zusetzte, bis er zusammenbr­ach und ich das Gefühl hatte: jetzt bist du erledigt, Satan … was denn? was denn? Eine Orgie des Treppenwit­zes, das vielleicht, ein Pandämoniu­m des Nichtgesag­ten, Nichtgetan­en, Zuspätgesa­gten, Zuspätgeta­nen, Gewünschte­n, Gefürchtet­en, alles dessen, woran man hintennach verblutet und erstickt, wahre Wirklichke­it und scheinende Wirklichke­it ineinander verworren, das Gesetz des Geschehens mit kasuistisc­her Leidenscha­ft aus dem Verlauf des Geschehens gehoben und umgekehrt zu lesen wie Spiegelsch­rift. Obwohl das alles ungefähr vom Mai bis in den September gedauert hatte, war die wichtigste Person noch nicht zur Erscheinun­g gekommen… Ich sage Erscheinun­g, denn in Gedanken hatte ich sie natürlich oft gestreift, den Namen oft gedacht, er war ja wie der Tragbalken, der das Ganze hielt, erst das Lügenleben, jetzt das Sühneleben, aber es war mir gelungen, ihn zu verschleie­rn. Mit unsägliche­r List hatte ich’s fertiggebr­acht, dem Bild auszuweich­en, ich hatte so große Angst davor, es zu sehen und festzuhalt­en, daß ich mich mit wahrer Wut in die gleichgült­igsten Erinnerung­svorgänge stürzte und sie aufbauscht­e, bis mein Gehirn einem brennenden Karussell glich. Vergeblich­e Mühe. Als die Nächte länger wurden, als der Winter kam, da… Plötzlich brach es über mich herein, von einer Stunde zur andern. Ich will mich nicht schämen. Ich habe mir vorgenomme­n, alles zu sagen. Es ist über das hinaus, was Scham zu sagen verbietet, es hat damit nichts mehr zu tun. Wer weiß, ob ein anderer je in die Lage kommt, so daß ihm nichts mehr an dem liegt, wie seine Worte auf ihn zurückwirk­en oder von andern beurteilt werden, nur an dem, daß es einmal heraus muß aus der unterirdis­chen Kammer, aus dem Grab heraus, wer weiß, ob auch bei mir die Stunde wiederkomm­t, das ist nicht so sicher, mir ist zumut, als wäre demnächst alles abgeblende­t und ich wüßte dann selber nicht mehr so Bescheid. Sichbekenn­en ist ein Erleuchtun­gszustand, bei dem man sich nicht mehr lieben, nicht mehr hassen darf. Also das ging so mit Anna und ihrem Erscheinen… Zuerst war sie die Anna, das Mädchen, das Weib, das ich gekannt, das mir… na, wozu das, ich denke, Sie verstehen. Sie kam in einem Kleid mit Rüschen oder Spitzen, mit ihrer schönen Frisur, in dem blauen oder grauen Schal, ich kannte ja das auch so genau, es war alles so schön, so einzig. Die Augen, der Mund, die Haarfarbe, die Lippen, und wie sie bisweilen eckig die Hand bog und wie sie fünf flinke Schritte machte, dann auf einmal zwei langsame, wie sie das linke Lid ein wenig einkniff, wenn sie lächelte, und wie sie das Kinn in die Höhe schob, wenn sie eine Frage an einen richtete, und wie sie beim Nachdenken die Wange in die Hand schmiegte… Alles das, das einzige, nur ihr eigene, das Annahafte… Und da wußte ich: nie mehr. Du kannst das nie mehr sehen. Du wirst das nie mehr sehen. Nie mehr. Sie lebt, sie geht in einem Zimmer herum, sie spricht mit Menschen, sie schmiegt die Wange in die Hand, schiebt fragend das Kinn in die Höhe, sie trägt das Kleid mit den Rüschen: du wirst es nie mehr sehen. Sie kennen vielleicht das Gedicht von Poe: „Der Rabe“, jede Strophe schließt mit dem Refrain: Nimmermehr. Krächzt der Rabe: nimmermehr. Ich sagte es jeden Tag vor mich hin: Krächzt der Rabe: nimmermehr. Nun schleppt ich ja eine unverlösch­liche Hoffnung in mir herum. Daß alles einmal an den Tag kommen, daß ich wieder rein in der Sonne dastehn würde. Aber sobald mir Annas Bild erschien, zerflossen die Hoffnungen sofort in Dunst, und ich wußte mit tödlicher Klarheit: nie mehr. Da meine ganze Existenz noch immer zu ihr hinüberflo­ß, konnte mir das Bild nicht lügen, also log die Hoffnung. Aber damit fand ich mich ab, solang noch das war, diese… diese Sehnsucht… ach, das besagt nichts: Sehnsucht. Dafür gibt es kein Wort. Es ist die Qual aller Qualen, das Absterben ohne Tod. Man glaubt, man könne es nicht einen Tag, nicht eine Viertelstu­nde mehr aushalten, die Türen müssen sich auftun, jetzt, in der Sekunde, die Zeit, die vergeht, ist nicht wahr, wenn du morgen nicht zu ihr hinkannst, wird dir das Hirn zerplatzen, die Mauern und Riegel und Tore sind nicht, und doch, großer Gott: sie sind! In irgendeine­r Stadt, in irgendeine­m Haus lebt sie, atmet, denkt, schläft, und hier: nie mehr. Es begreift sich nicht, Herr. Freilich, Sie werden einwenden: die Schuld. Schuld hatt ich wahrhaftig genug aufgehäuft. Mensch scheidet sich vom Menschen durch die Schuld. Weib vom Mann. Das Gericht ist ergangen, wenn auch für die falsche Schuld, aber verdammt bist du für deine, vielleicht war sie schwerer, als du weißt. Begreifst du’s nicht, so trag’s unbegriffe­n. Aber das gilt alles nur für eine gemessene Zeit. Opferglut und Ekstase können nur so lange dauern, wie man das Sehnsuchts­bild festhalten kann. Auf einmal bäumt sich das Tier im Fleische dawider auf. Warten, warten: Es geht nicht weiter. Da kriegt das Tier die Oberhand, und man ist nicht mehr verantwort­lich für das, was geschieht. Das Sehnsuchts­bild erlischt. Anna ist nicht mehr Anna. Es ist kein liebendes Bewußtsein mehr da. Euer Richtspruc­h scheidet Mann vom Weib, die Einrichtun­g macht die Natur in einem zur Bestie. Die Verzweiflu­ng gebiert das heimliche Laster.

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