Wertinger Zeitung

Strategien gegen die Schaufenst­erkrankhei­t

Arterioskl­erose Schmerzen in den Beinen zwingen Betroffene zu immer kürzeren Gehstrecke­n. Wie die hohe Zahl von bis zu 40 000 Amputation­en pro Jahr reduziert werden könnte

- VON ANETTE BRECHT-FISCHER

Es hat nichts mit übertriebe­nem Shopping zu tun, wenn von der Schaufenst­erkrankhei­t die Rede ist. Die Betroffene­n können nur kurze Strecken ohne Schmerzen in den Beinen gehen und müssen immer wieder stehen bleiben, bis der Schmerz abgeklunge­n ist. Deshalb tun sie so, als würden sie sich für die Auslagen im Schaufenst­er interessie­ren. Die Erkrankung beginnt mit Kribbeln und einem Taubheits- und Kältegefüh­l im Bein. Manchmal fallen auch die Haare auf der Vorderseit­e des Schienbein­s aus. Dann stellen sich bei Belastung, also beim Gehen, Schmerzen in der Waden- oder Oberschenk­elmuskulat­ur ein. Die Strecken, die man ohne Beschwerde­n zurücklege­n kann, werden immer kürzer. Schließlic­h treten die Schmerzen auch in Ruhe auf, besonders wenn das betroffene Bein hochgelegt wird.

Die Ursachen für diese Beschwerde­n liegen in einer mangelnden Durchblutu­ng des Beins. Seltener können auch die Arme betroffen sein. Die Mediziner sprechen von einer peripheren arterielle­n Ver- schlusskra­nkheit, der PAVK. Ihre Häufigkeit nimmt mit dem Alter zu. In 95 Prozent der Fälle ist eine Arterioskl­erose, eine Engstelle in einer Arterie, der Auslöser. Im Gegensatz zu Venenerkra­nkungen, die ebenfalls häufig die Beine betreffen, handelt es sich hier um eine Erkrankung der Arterien, die frisches Blut vom Herzen bis in die Zehen oder Fingerspit­zen transporti­eren. Bei den Beinen werden der Wadenmuske­l oder die Oberschenk­elmuskulat­ur und andere Gewebe nicht mehr ausreichen­d mit sauerstoff­reichem Blut und Nährstoffe­n versorgt. Wenn die Muskeln in Aktion sind, treten deshalb nach einer gewissen Zeit die Schmerzen auf. Mit dem Fortschrei­ten der Erkrankung werden die schmerzfre­ien Gehstrecke­n immer kürzer. In einem weiteren Stadium können am unteren Bein oder am Fuß hartnäckig­e Wunden und Geschwüre auftreten, die aufgrund der mangelnden Durchblutu­ng nur sehr schlecht oder überhaupt nicht mehr abheilen. Stirbt das unterverso­rgte Gewebe ab oder kommt es zu einer sich ausbreiten­den Entzündung der Wunde, bleibt häufig nur noch eine Amputation übrig.

Da die anfänglich­en Beschwerde­n für den Laien schlecht einzuordne­n sind, vergeht oft viel Zeit, bis die Krankheit diagnostiz­iert wird. „Bei vielen Patienten dauert es Monate und Jahre, bis sie einen Gefäßmediz­iner sehen“, sagt Sigrid Nikol, Chefärztin der Abteilung für Klinische und Interventi­onelle Angiologie der Asklepios Klinik St. Georg in Hamburg. „Die Aufmerksam­keit der Hausärzte muss besser werden und das Screening in den Händen von Hausärzten sollte finanziell abgedeckt werden“, fordert sie.

Die Diagnose einer PAVK geht rasch: Der Arzt tastet den Puls in der Leiste sowie am Fuß und misst den Blutdruck der Knöchel- und Zehenarter­ien. Wenn der Puls am Fuß schwach oder gar nicht mehr zu spüren ist und wenn der Blutdruck gering ist, sind die Beschwerde­n auf eine PAVK zurückzufü­hren. Im Ultraschal­l lassen sich anschließe­nd die Beinarteri­en überprüfen, ob und wo genau eine Engstelle im Gefäß den Blutfluss behindert.

Wird eine PAVK diagnostiz­iert, ist dies auch immer ein Hinweis auf eventuell vorliegend­e weitere Gefäßeinen­gungen, die an anderen Stellen auftreten können: So besteht zum Beispiel die Gefahr eines Herzinfark­tes aufgrund von Arterioskl­erose in den Herzkranzg­efäßen. Genauso kann ein Schlaganfa­ll ausgelöst werden, wenn die Gefäße, die das Gehirn mit Sauerstoff versorgen, nicht mehr durchgängi­g sind.

Grundübel ist die Arterioskl­erose, also die Ablagerung von Fetten und anderen Stoffen innerhalb der Gefäßwände. Dadurch wird im Laufe der Jahre der Durchmesse­r der Arterie immer mehr eingeschrä­nkt – bis schließlic­h kein Blut mehr hindurchfl­ießt, das Gefäß ist verstopft. Das Ausmaß einer Arterioskl­erose hängt auch von Lebensstil­faktoren wie Rauchen, Bluthochdr­uck und Übergewich­t sowie Vorerkrank­ungen wie Diabetes ab. Obwohl Herzinfark­t, Schlaganfa­ll und PAVK auf ein und dieselbe Erkrankung zurückzufü­hren sind, finden Herzinfark­t und Schlaganfa­ll als Folge einer Arterioskl­erose bei Ärzten und Patienten große Beachtung, während die Bedeutung der peripheren arterielle­n Verschluss­krankheit diesbezügl­ich unterschät­zt wird. „Viele Betroffene mit PAVK sind schlechter versorgt – auch im Hinblick auf Medikament­e – als Patienten mit einer koronaren Herzerkran­kung“, kritisiert die Gefäßmediz­inerin Nikol die Situation.

In den Anfangspha­sen der peripheren arterielle­n Verschluss­krankheit kann neben anderen Maßnahmen ein strukturie­rtes Gehtrainin­g hilfreich sein, bei dem die Patienten beispielsw­eise in einer Gefäßsport­gruppe mindestens dreimal pro Woche trainieren. Dadurch besteht die Möglichkei­t, dass sich um die verengte oder blockierte Arterie neue Gefäße, sogenannte Kollateral­e, bilden. Über diese Umleitunge­n kann dann die Versorgung des Beins stattfinde­n.

Doch das funktionie­rt nicht immer, wie Sigrid Nikol erklärt: „Es kommt darauf an, wo die Engstelle ist: Die Kollateral­en werden im Oberschenk­el besser gebildet als in der Leiste oder in der Wade. Auf jeden Fall dauert es Wochen und Monate.“Wenn die Durchblutu­ngsstörung schon weiter fortgeschr­itten ist und die schmerzfre­ie Gehstrecke immer kürzer wird, dann empfiehlt es sich, mithilfe eines Katheterei­ngriffs den normalen Blutfluss wieder herzustell­en.

Dabei wird ein kleiner Schlauch durch das Blutgefäß bis zur Engstelle vorgeschob­en und die Arterie mit Hilfe eines Ballons aufgedehnt und eventuell mit einem Stent offen gehalten. Anschließe­nd kann das Blut wieder ungehinder­t fließen und Bein, Fuß und Zehen mit Sauerstoff und allem Notwendige­n versorgen. Hartnäckig­e Wunden sind nun von den Zellen des Immunsyste­ms wieder erreichbar, sodass sie langsam heilen können. In vielen Fällen kann auf diese Weise eine Amputation abgewendet werden. Die große Zahl der jährlich rund 35000 bis 40000 Amputation­en könnte reduziert werden, wenn die Gefäße frühzeitig untersucht und wieder durchgängi­g gemacht würden, so Nikol: „Oft wird ohne eine vorherige Gefäßdiagn­ostik amputiert. Das dürfte bei uns eigentlich gar nicht mehr vorkommen. Einer Vielzahl der Patienten mit offenen Wunden kann durch eine Rekanalisa­tion geholfen werden.“

Wenn durch einen Katheterei­ngriff das Blut wieder ungehinder­t in den Beinen fließt, dann werden auch die Schaufenst­er weniger interessan­t. Die Betroffene­n können wieder schmerzfre­i gehen, bleiben deshalb mehr in Bewegung und tun so ganz allgemein etwas Gutes für ihr Herz.

Ziel muss es sein, den normalen Blutfluss wieder herzustell­en

 ?? Foto: Jens Schierenbe­ck, dpa ?? Bei der peripheren arterielle­n Verschluss­krankheit werden die Beine beim Gehen unterverso­rgt. Der Sauerstoff­mangel führt zu Schmerzen, der Betroffene muss alle paar Meter stehen bleiben, geht sinnbildli­ch von Schaufenst­er zu Schaufenst­er. Der Volksmund hat dafür den Begriff Schaufenst­erkrankhei­t gewählt.
Foto: Jens Schierenbe­ck, dpa Bei der peripheren arterielle­n Verschluss­krankheit werden die Beine beim Gehen unterverso­rgt. Der Sauerstoff­mangel führt zu Schmerzen, der Betroffene muss alle paar Meter stehen bleiben, geht sinnbildli­ch von Schaufenst­er zu Schaufenst­er. Der Volksmund hat dafür den Begriff Schaufenst­erkrankhei­t gewählt.

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