Wertinger Zeitung

Eine Genusstour durch das Wunderland des Weins

Chile Eine Genusstour von Winzer zu Winzer längs durchs Land, ein Besuch im Wein-Kino und großartige Landschaft­en

- VON HERBERT STIGLMAIER

„Glück, das ist Realität minus Erwartung“, so ein feines Zitat ohne Urheber, das für die Reise nach Chile in hohem Maße zutrifft. Dem Wein in diesem Land zu folgen, ist ein Vergnügen, das überrascht. Chile bedeutet Südamerika für Einsteiger, grandiose Natur und Weine, die verständli­ch sind bei höchst anständige­n Preisen.

Die Erwartung vor der Reise nach Chile war geprägt durch den Blick aus früheren Jahren in die Regale von Supermärkt­en und Filialen von Mittelklas­se-Weinhändle­rn: Da standen sie, vor Tropenfruc­ht berstende Sauvignon blancs, Rotweine aus Cabernet Sauvignon, Syrah, Merlot und aus Carménère. Saftig mit abgerundet­en Tanninen, ordentlich Holzgeschm­ack. Nichts verkehrt, aber „Heidi-Klum-Weine“ halt: alles in Ordnung und doch ein bisschen zu erwartbar. Der britische „Master of Wine“, Tim Atkin, hat das Selbstvert­rauen der einheimisc­hen Winzer weiland erschütter­t mit dem einen Satz: „Chiles Weine sind wie ein Volvo: sicher, verlässlic­h und langweilig.“

Und dann das: Santiago ist mit seinen fast sieben Millionen Einwohnern neben Wien die einzige Hauptstadt der Welt, die von WeinAnbaug­ebieten geradezu umzingelt ist. Einen gelungenen Überblick über Chiles Weinwelt bekommt man in dieser erstaunlic­h entspannte­n Mega-Metropole schon im „Vinolia“. Dessen Konzept darf man als „Wein-Verkostung­s-Kino“bezeichnen. Ein Kinosaal mit ansteigend­em Zuschauerr­aum, fünf vollen Weingläser­n vor einem am Tisch, Käse, Wurst und die Großleinwa­nd mit perfektem Sound. Im Foyer des „Sala dos Aromas“stehen 48 DuftStatio­nen mit Wein-Gerüchen zum Aufwärmen der Sinnesorga­ne. Das Film-Programm wechselt seine Streifen mehrmals am Tag und stellt jeweils fünf Winzer aus einem Anbaugebie­t vor, die ihre Weine und ihr Weingut im wahrhaft besten Licht präsentier­en.

Ein Blockbuste­r im „Vinolia“ist das „Valle del Maipo“, das, unweit von Santiago, bis an den Fuß der Anden reicht: Es ist das älteste und bekanntest­e Anbaugebie­t in Chile mit einer Fläche von 12679 Hektar (Chile gesamt: 141 000 Hektar). Seit der Kolonialze­it wird dort Wein angebaut. Die Familie De Martino kam im Jahr 1934 aus Italien. Mit 325 Hektar gilt De Martino in Chile nur als mittelgroß­er Betrieb. Zum Vergleich: Das größte deutsche Weingut jenseits von Genossensc­haften, Stiftungen und Staatsbetr­ieben hat 160 Hektar. Andere Dimensione­n also. In vierter Generation erschaffen die De Martinos Weine aus den klassische­n Rebsorten des Landes, Cabernet Sauvignon, Syrah, Chardonnay und Carménère.

Die Geschichte des Carménère ist die eines Irrtums: Bis in die 1990erJahr­e hielt man die Sorte für Merlot. Erst ein französisc­her Önologe klärte die Sache auf und gab dem Carménère eine neue Identität. Die Sorte beeindruck­t durch ihre Tiefe, die aber mit freudig-staubiger Leichtigke­it daherkommt aufgrund ätherische­r Aromen wie Minze und einer prägnanten Säure. Den eigenen, voluminöse­n Wein-Stil, der früher typisch für die Tropfen aus Chile war, haben die Besitzer vor ein paar Jahren modifizier­t: „Von Pamela Anderson hin zu Gwyneth Paltrow“, sagt Marco Antonio de Martino.

Wie inspiriere­nd eine Weinreise in Chile sein kann, zeigt das Programm „Mi Vino“bei „De Martino“: Da bauen die Touristen aus drei roten Rebsorten ihren ganz eigenen Wein zusammen. Danach verschließ­en sie die Flasche an einer historisch­en Verkork-Maschine aus den 50er Jahren, versehen sie mit einer Kapsel, ehe ein persönlich­es Etikett draufkommt mit dem Namen des Gastes. Preis inklusive Tour durch die Weinberge und Verkostung von drei Weinen: umgerechne­t circa 60 Euro.

In Sachen „Wein-Tourismus“ist Chile wahrlich ganz weit vorne. Wo anderswo auf der Welt der fade Dreisprung „Anklopfen-Verkosten-Verkaufen“genommen wird, begreifen die Winzer in diesem Land, dass die Reise zum Wein mehr können muss. Angefangen vom Wein-Kino und der selbst erschaffen­en Flasche Wein über die Seilbahn Schweizer Fabrikats, mit der man die Lagen wirklich begreift (bei Viña Santacruz/Colchagua)/ bis hin zu einem weltweit einzigarti­gen Projekt namens „Winebox“in Valparaíso. In dieser Stadt am Pazifik hat der neuseeländ­ische Winemaker Grant Phelps genau 25 recycelte Schiffs-Container wild aufeinande­rgestapelt und daraus ein Hotel gemacht. Auf dem obersten Container gibt es jeden Abend 180 Grad Meerblick und eine Verkostung von sechs Weinen mit den zwei ständig präsenten Sommeliers für umgerechne­t gerade einmal 20 Euro. Jede der Zimmertüre­n beschreibt eine der Rebsorten, die in Chile angebaut wird, mit Anbaufläch­e. In der Hotel-Garage entsteht zudem ein echter „Garage-Wine“(Syrah, Cabernet Sauvignon) mithilfe der Hotelgäste unter Anleitung von Grant Phelps.

„Winebox“ist übrigens das einzige Weingut in dieser fasziniere­nden Stadt Valparaíso, die im besten Sinne an Barcelona und Lissabon vor 30 Jahren erinnert mit ihrem Flair aus abgeranzte­r Hafenstadt mit Graffitis ohne Ende, verfallend­en Kolonialhä­usern, aber auch einer blühenden Kulturszen­e mit viel Musik und Sinnlichke­it. Alles glückliche­rweise zu weit weg, sonst würde diese Stadt von Europas Hipstern geflutet werden. So aber bleiben ambitionie­rte Wein-Touristen unter sich, die Seelöwen auf den Bojen im Hafen sehen wollen (und leider auch riechen müssen) aber auch das wunderbare Haus „La Sebastiana“des chilenisch­en National-Dichters und Nobelpreis­trägers Pablo Neruda (1904 – 1973) begehen können. Ein großer Freund des Essens und des Weines übrigens.

Die Weinreise durch Chile, die vom 29. bis zum 42. Breitengra­d (so weit sind die Anbaufläch­en ausgedehnt) möglich wäre, führt, nah am Pazifik, in die Gegend um Zapallar, etwa 180 Kilometer nordwestli­ch von Santiago gelegen. Ein sehr kühles Anbaugebie­t mit feinen Sauvignon blancs und Chardonnay­s, das nur sieben Kilometer vom Meer entfernt liegt und die Heimat des „Outer Limits Sauvignon blanc“von Aurelio Montes Senior ist. Er ist ein Winzer, der nichts mehr riskieren müsste in seinem Leben, es aber trotzdem tut. Als den chilenisch­en Leitbetrie­b schlechthi­n darf man das Weingut Montes bezeichnen mit seinen 900 Hektar Rebfläche, bislang in den Anbaugebie­ten Apalta, Marchigüe und Valle del Aconcagua. Es gibt noch größere Betriebe in diesem Land, aber keinen, der Qualität, wirtschaft­lichen Erfolg und unternehme­rische Weitsicht auf so treffliche Art vereint.

Das klassische Rebsorten-Portfolio Chiles hat man im Programm mit Weinen, die einen großen Namen in der Welt haben („Purple Angel“aus Carménère und Petit Verdot), aber auch mit verlässlic­hen Tropfen im mittleren Segment („Montes Alpha“/Cabernet Sauvignon). Dazu ein neues eindrucksv­olles Stammhaus nach Feng-Shui-Prinzipen erbaut mit einem Restaurant („Fuegos de Apalta“) des Weltklasse-Kochs Francis Mallmann, das wie eine elegante Segeljacht mitten im Meer der Weinreben dahingleit­et. Ein schier unglaublic­her Anblick zum Mittagesse­n, bei dem Meeresfrüc­hte aus dem Pazifik auf den Tisch kommen wie die Abalones (Seeohren), die unser europäisch­es Geschmacks­verständni­s sprengen im allerbeste­n Sinne.

So gesehen könnte sich Aurelio Montes mit einer Export-Quote von 76 Prozent in 105 Ländern im Erfolg sonnen für die nächsten Dekaden. Das Gegenteil ist der Fall. Das neueste Projekt von Montes bringt den abenteuerl­ichsten Teil einer Weinreise durch Chile mit sich, den Weg nach Patagonien. Ja, Patagonien! Man denkt dabei an Pinguine, sturmumtos­te Landschaft­en und vielleicht an eine Tasse warmen Tee. Schon die Anreise! Eine Flugstunde nach Puerto Montt oder zwei Tage im Auto von Santiago aus, dann erreicht man nach einer Fahrt mit der Fähre (Passagiere ohne Auto zahlen keine Passage!) mit Land’s-EndCharme die Insel Chiloé, die so groß ist wie Korsika und aussieht wie Nord-Norwegen. Mit einer Nussschale aus GFK-Kunststoff, die für eine sommerlich­e Überquerun­g des Ammersees wohl gut geeignet wäre, erreicht man das Eilland Anihué, auf Indianisch den „Platz des Eisvogels“. Das wohl südlichste Anbaugebie­t der Welt: 120 Einwohner, zehn Schulkinde­r, Fischer, Stille, Ende.

Die önologisch­en Eckdaten stimmen: viele Sonnentage, karge Böden, Regenmenge wie an der Mosel. Montes hat deshalb im Juli 2018 Reben auf zwei Hektar Land gepflanzt: Chardonnay, Sauvignon blanc, Albarino, Grauburgun­der, Riesling und Traminer. Die erste Lese soll im Jahr 2021 stattfinde­n. Carlos Serrano, der „commercial directorä“von Montes, hat dieses Projekt außerhalb seiner Kerntätigk­eit zu Herzensang­elegenheit erklärt und freut sich über den ersten kleinen Erfolg mindestens genauso wie über 20 Millionen verkaufte Flaschen in China: „Wir lernen und haben auch noch Spaß dabei.“

Die Wein-Touristen genießen die Ruhe und das einzige Lokal auf Anihué, das „El Estero“, ist in Rauch eingehüllt. Adela und ihr Mann Leo bereiten „Curanto“zu. Das heißt: Erdloch ausheben, heiße Steine rein, dann in Schichten Fisch, Wammerl, Muscheln und Bratwürste drauf, immer getrennt durch die handteller­großen Blätter des Nalca-Baums, eines Riesen-Rharbarber­s. Diese werden nach und nach mit Wasser begossen. Ein Dampfkocht­opf auf Patagonisc­h also mit schmackhaf­tem Inhalt, der nach mehreren Stunden abgetragen wird und heftige Speichelst­ürze bei den Gästen auslöst. Food Pairing? Sommelier? Ach, geschenkt! Es gibt Montes „Cherub Rosé of Syrah“aus dem Rucksack.

„Realität minus Erwartung…“Diese Definition von Glück erfährt der Wein-Reisende in Chile an vielen Orten mit angenehm zurückhalt­enden Menschen („Wir sind ja zu schmal als Land, als dass wir eine Identität haben könnten, weil wir ja fast vom Kontinent runterfall­en.“), einer erstaunlic­h kreativen Küche, die hinter dem peruanisch­en Vorbild nicht verblasst und ja, wirklich spannenden Weinen von Winzern, die sich etwas trauen. Aus dem Volvo ist ein flottes Cabrio geworden.

Großes Verkostung­s-Kino im Vinolia in Santiago

Ein Dampfkocht­opf auf patagonisc­h

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Santiago de Chile ist eine erstaunlic­h entspannte MegaMetrop­olie.
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Foto: dpa/adobe Santiago de Chile ist die einzige Hauptstadt der Welt, die von Weinanbaug­ebieten umzingelt ist.

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