Stellen USA Erdogan Blankoscheck für Syrien aus?
Hintergrund Der türkische Präsident Erdogan hofft auf einen möglichst weitgehenden Abzug der US-Truppen, um ungestört gegen kurdische Milizen im Norden des Landes vorgehen zu können. Die Kurden fühlen sich von Washington verraten
Istanbul Die bevorstehende türkische Militärintervention in Syrien wird Folgen für Europa haben. Der am Montag begonnene Rückzug der US-Truppen aus dem kurdisch beherrschten Gebiet entlang der türkischen Grenze dürfte neue Spannungen schaffen, die in Deutschland und anderen EU-Ländern auf verschiedenen Ebenen zu spüren sein werden.
Doch wie weit der Abzug der amerikanischen Streitkräfte tatsächlich gehen wird, ist für den Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, noch unklar: „Das muss man abwarten, der beginnende Abzug scheint ja auf eine spontane Entscheidung von USPräsident Donald Trump zurückzugehen. Ob sich die Truppen tatsächlich komplett aus der Grenzregion zurückziehen, ist längst nicht ausgemacht“, sagte der Türkei-Experte im Gespräch mit unserer Redaktion.
Für die Türkei wäre ein USTruppenabzug ein Erfolg – zumindest auf kurze Sicht. Trump würde seine kurdischen Verbündeten in Syrien schutzlos zurücklassen. Für den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan könnte sein Hauptziel in Syrien – die Zerschlagung des kurdischen Autonomiegebietes entlang der türkischen Südgrenze – in greifbare Nähe rücken. Allerdings gibt es auch bei den Republikanern in Washington scharfe Kritik an dem Abzug. Der einflussreiche USRepublikaner Lindsey Graham sprach von einer „impulsiven Entscheidung des Präsidenten“, die dazu führen könne „alle Gewinne, die wir gemacht haben, zu Fall zu bringen“und „die Region in weiteres Chaos zu stürzen“. Graham, ein enger Vertrauter Trumps, kündigte im TV-Sender Fox News erbitterten Widerstand gegen die Entscheidung des Präsidenten an.
In Europa wächst erneut die Furcht vor einer wachsende Zahl von Flüchtlingen bei einem eskalierenden Konflikt oder einer Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens durch Ankara. Brakel kritisiert eine „Selbstverzwergung“der EU: Europa lähme sich selber und verliere fast jeden Einfluss auf die Entwicklung. „Dabei würde die Türkei ihren wichtigsten diplomatischen Trumpf aus der Hand geben, wenn sie den Flüchtlingsdeal platzen lässt“, sagt Brakel. Im Übrigen sei ebenfalls unklar, wie weit die türkischen Truppen auf syrisches Gebiet vorstoßen würden. Das hänge einmal mit dem Umfang des US-Abzuges zusammen. Gleichzeitig aber sei eine Besetzung des gesamten Grenzgebietes gegen die kampfstarken kurdischen Milizen militärisch äußerst heikel. Brakel geht davon aus, dass die türkische Militäroperation frühestens am Mittwoch beginnt, wenn Erdogan von seinem Staatsbesuch aus Serbien zurückkehrt.
Eine weitere offene Frage ist, was ein umfassender türkischer Einmarsch für den Kampf gegen die Terrormiliz IS bedeuten würde. Denn dann hätte Ankara die Verantwortung für zehntausende IS-Gefangene im Nordosten Syriens. Unter den IS-Kämpfern und ihren Angehörigen, die bisher von den Kurden bewacht werden, sind etliche Europäer und auch knapp 200 Deutsche. Die Türkei wird diese ausländischen Gefangenen rasch an ihre Heimatländer durchreichen wollen. Die türkische Intervention könnte zudem indirekt zur Stärkung des IS beitragen. Kurdische Truppen, die seit der militärischen Niederlage des Islamischen Staates im Frühjahr bisher zusammen mit dem US-Militär den Druck auf die Dschihadisten in Ost-Syrien aufrechterhalten haben, werden möglicherweise ihre Stellungen verlassen, um sich den türkischen Truppen entgegenzustellen. Der IS, der sich seit Monaten auf eine neue Offensive vorbereitet, könnte daher bald wieder Gebiete erobern – und damit für Extremisten in Europa wieder attraktiver werden. Unvergessen ist, dass die Türkei bis zum Herbst 2014 dem IS indirekt half, indem sie die Grenzen für seine Kämpfer offen ließ. Viele von ihnen wurden sogar in türkischen Kliniken behandelt.
Es ist davon auszugehen, dass die Türkei parallel zu der erwarteten Intervention von Europa noch nachdrücklicher die Unterstützung der EU-Staaten für die Bildung einer „Sicherheitszone“im Norden Syriens fordern wird. Ankara will in der Zone weit mehr als eine Million syrische Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln und 140 neue Dörfer für die Rückkehrer bauen. An den Kosten von mehr als 20 Milliarden Euro soll sich die EU beteiligen. Bisher lehnen die EU-Staaten das türkische
Noch mehr Flüchtlinge könnten die Folge sein
Projekt jedoch ab. Brakel glaubt nicht, dass das türkische Vorhaben in dem angekündigten Ausmaß realistisch ist. Gleichzeitig sei zu fragen, welche Konsequenzen es hätte, wenn die Türkei Syrer gegen ihren Willen in eine Sicherheitszone umsiedeln würde: „Wenn Ankara dies tut, also in Kriegsgebiete ausweist, wäre die Türkei kein sicheres Herkunftsland mehr. Das wäre dann tatsächlich das Ende für den Flüchtlingsdeal mit der EU.“
Schwierig ist die Situation auch, weil eine türkische Intervention internationale Verwerfungen auslösen dürfte. Ohne die amerikanische Präsenz im Osten Syriens werden dort der Iran, Russland und die syrische Regierung in Damaskus gestärkt. Das könnte schon bald sichtbar werden: Wenn die von den USA im Stich gelassenen kurdischen Kämpfer ihre Positionen im Südosten Syriens aufgeben und sich nach Norden wenden, um die Türken aufzuhalten, werden iranisch gesteuerte Gruppen, die russische Luftwaffe und syrische Regierungstruppen bereitstehen, um das entstehende Vakuum zu füllen.