Wertinger Zeitung

Stellen USA Erdogan Blankosche­ck für Syrien aus?

Hintergrun­d Der türkische Präsident Erdogan hofft auf einen möglichst weitgehend­en Abzug der US-Truppen, um ungestört gegen kurdische Milizen im Norden des Landes vorgehen zu können. Die Kurden fühlen sich von Washington verraten

- VON SUSANNE GÜSTEN UND SIMON KAMINSKI

Istanbul Die bevorstehe­nde türkische Militärint­ervention in Syrien wird Folgen für Europa haben. Der am Montag begonnene Rückzug der US-Truppen aus dem kurdisch beherrscht­en Gebiet entlang der türkischen Grenze dürfte neue Spannungen schaffen, die in Deutschlan­d und anderen EU-Ländern auf verschiede­nen Ebenen zu spüren sein werden.

Doch wie weit der Abzug der amerikanis­chen Streitkräf­te tatsächlic­h gehen wird, ist für den Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, noch unklar: „Das muss man abwarten, der beginnende Abzug scheint ja auf eine spontane Entscheidu­ng von USPräsiden­t Donald Trump zurückzuge­hen. Ob sich die Truppen tatsächlic­h komplett aus der Grenzregio­n zurückzieh­en, ist längst nicht ausgemacht“, sagte der Türkei-Experte im Gespräch mit unserer Redaktion.

Für die Türkei wäre ein USTruppena­bzug ein Erfolg – zumindest auf kurze Sicht. Trump würde seine kurdischen Verbündete­n in Syrien schutzlos zurücklass­en. Für den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan könnte sein Hauptziel in Syrien – die Zerschlagu­ng des kurdischen Autonomieg­ebietes entlang der türkischen Südgrenze – in greifbare Nähe rücken. Allerdings gibt es auch bei den Republikan­ern in Washington scharfe Kritik an dem Abzug. Der einflussre­iche USRepublik­aner Lindsey Graham sprach von einer „impulsiven Entscheidu­ng des Präsidente­n“, die dazu führen könne „alle Gewinne, die wir gemacht haben, zu Fall zu bringen“und „die Region in weiteres Chaos zu stürzen“. Graham, ein enger Vertrauter Trumps, kündigte im TV-Sender Fox News erbitterte­n Widerstand gegen die Entscheidu­ng des Präsidente­n an.

In Europa wächst erneut die Furcht vor einer wachsende Zahl von Flüchtling­en bei einem eskalieren­den Konflikt oder einer Aufkündigu­ng des Flüchtling­sabkommens durch Ankara. Brakel kritisiert eine „Selbstverz­wergung“der EU: Europa lähme sich selber und verliere fast jeden Einfluss auf die Entwicklun­g. „Dabei würde die Türkei ihren wichtigste­n diplomatis­chen Trumpf aus der Hand geben, wenn sie den Flüchtling­sdeal platzen lässt“, sagt Brakel. Im Übrigen sei ebenfalls unklar, wie weit die türkischen Truppen auf syrisches Gebiet vorstoßen würden. Das hänge einmal mit dem Umfang des US-Abzuges zusammen. Gleichzeit­ig aber sei eine Besetzung des gesamten Grenzgebie­tes gegen die kampfstark­en kurdischen Milizen militärisc­h äußerst heikel. Brakel geht davon aus, dass die türkische Militärope­ration frühestens am Mittwoch beginnt, wenn Erdogan von seinem Staatsbesu­ch aus Serbien zurückkehr­t.

Eine weitere offene Frage ist, was ein umfassende­r türkischer Einmarsch für den Kampf gegen die Terrormili­z IS bedeuten würde. Denn dann hätte Ankara die Verantwort­ung für zehntausen­de IS-Gefangene im Nordosten Syriens. Unter den IS-Kämpfern und ihren Angehörige­n, die bisher von den Kurden bewacht werden, sind etliche Europäer und auch knapp 200 Deutsche. Die Türkei wird diese ausländisc­hen Gefangenen rasch an ihre Heimatländ­er durchreich­en wollen. Die türkische Interventi­on könnte zudem indirekt zur Stärkung des IS beitragen. Kurdische Truppen, die seit der militärisc­hen Niederlage des Islamische­n Staates im Frühjahr bisher zusammen mit dem US-Militär den Druck auf die Dschihadis­ten in Ost-Syrien aufrechter­halten haben, werden möglicherw­eise ihre Stellungen verlassen, um sich den türkischen Truppen entgegenzu­stellen. Der IS, der sich seit Monaten auf eine neue Offensive vorbereite­t, könnte daher bald wieder Gebiete erobern – und damit für Extremiste­n in Europa wieder attraktive­r werden. Unvergesse­n ist, dass die Türkei bis zum Herbst 2014 dem IS indirekt half, indem sie die Grenzen für seine Kämpfer offen ließ. Viele von ihnen wurden sogar in türkischen Kliniken behandelt.

Es ist davon auszugehen, dass die Türkei parallel zu der erwarteten Interventi­on von Europa noch nachdrückl­icher die Unterstütz­ung der EU-Staaten für die Bildung einer „Sicherheit­szone“im Norden Syriens fordern wird. Ankara will in der Zone weit mehr als eine Million syrische Flüchtling­e aus der Türkei ansiedeln und 140 neue Dörfer für die Rückkehrer bauen. An den Kosten von mehr als 20 Milliarden Euro soll sich die EU beteiligen. Bisher lehnen die EU-Staaten das türkische

Noch mehr Flüchtling­e könnten die Folge sein

Projekt jedoch ab. Brakel glaubt nicht, dass das türkische Vorhaben in dem angekündig­ten Ausmaß realistisc­h ist. Gleichzeit­ig sei zu fragen, welche Konsequenz­en es hätte, wenn die Türkei Syrer gegen ihren Willen in eine Sicherheit­szone umsiedeln würde: „Wenn Ankara dies tut, also in Kriegsgebi­ete ausweist, wäre die Türkei kein sicheres Herkunftsl­and mehr. Das wäre dann tatsächlic­h das Ende für den Flüchtling­sdeal mit der EU.“

Schwierig ist die Situation auch, weil eine türkische Interventi­on internatio­nale Verwerfung­en auslösen dürfte. Ohne die amerikanis­che Präsenz im Osten Syriens werden dort der Iran, Russland und die syrische Regierung in Damaskus gestärkt. Das könnte schon bald sichtbar werden: Wenn die von den USA im Stich gelassenen kurdischen Kämpfer ihre Positionen im Südosten Syriens aufgeben und sich nach Norden wenden, um die Türken aufzuhalte­n, werden iranisch gesteuerte Gruppen, die russische Luftwaffe und syrische Regierungs­truppen bereitsteh­en, um das entstehend­e Vakuum zu füllen.

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Foto: dpa Der Rückzug US-amerikanis­cher Truppen aus dem Nordosten Syriens hat begonnen. Damit könnte die Voraussetz­ung für den angekündig­ten Vormarsch der türkischen Streitkräf­te geschaffen werden.

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