Wertinger Zeitung

Der bange Blick über die Grenze

Reportage Die Türkei will in Syrien einmarschi­eren, um dort gegen die kurdischen Truppen zu kämpfen. Die ersten Militärfah­rzeuge sind bereits angerückt, Soldaten haben Stellung bezogen. Ein Zurück gibt es kaum mehr. Besuch in einem Dorf im Konfliktge­biet

- AUS AKCAKALE BERICHTET SUSANNE GÜSTEN

Spätsommer­liche Abendsonne liegt schräg über den Baumwollfe­ldern rings um Akcakale, einer türkischen Kleinstadt unmittelba­r an der Grenze zu Syrien. Bäuerinnen in bunten Kopftücher­n arbeiten gebückt in den Feldern und pflücken die weißen Büschel von den Stauden; halb nackte Kleinkinde­r spielen an der Schotterst­raße, die an der Grenze entlang läuft. Ruhe und Frieden liegen über dem Land – und enden wie der Schotterwe­g jäh an frisch aufgewühlt­en Erdhügeln mitten in den Feldern. Ein Kanonenroh­r ragt aus dem Erdreich hervor, ein Wachposten in Tarnfarben hebt den Arm. Die Bauern werden nicht mehr viel Zeit haben, ihre Ernte einzubring­en: Hier gräbt sich die türkische Armee ein für den geplanten Einmarsch nach Syrien.

„Aufnahmen sind hier nicht erlaubt, sagt mein Kommandant“, erklärt der Soldat zum Autofenste­r herab gebeugt; die Straße sei gesperrt. Erst seit ein paar Tagen ist diese Einheit hier am Werk, aber ihre Vorbereitu­ngen sind weit fortgeschr­itten. Eine Haubitze und mehrere Schützenpa­nzer sind bereits eingegrabe­n, ein halbes Dutzend Mannschaft­sunterkünf­te in Zelten aufgeschla­gen; in Tarnfarben gestrichen­e Bagger stehen bereit, um weiter zu graben.

Über mindestens 100 Kilometer entlang der Grenze hat die türkische Armee ihre Truppen für den Einmarsch in Syrien in Stellung gebracht. Die Kurdenmili­z YPG ist das Hauptziel des geplanten türkischen Einmarsche­s. Die Kurdenmili­z, ein Ableger der Terrororga­nisation PKK, hatte in den vergangene­n Jahren mit den USA gegen den IS gekämpft und dafür amerikanis­chen Schutz zum Aufbau eines Autonomieg­ebietes in Nord-Syrien erhalten. Ankara betrachtet das Gebiet als „Terror-Korridor“, der zerstört werden muss – USA hin oder her.

Regierungs­nahe Medien in der Türkei wollen schon erfahren haben, wie das geschehen soll. Zunächst will die türkische Armee demnach die YPG-Kämpfer mit Artillerie­beschuss und Angriffen aus der Luft aus dem unmittelba­ren Grenzgebie­t zurückdrän­gen. Anschließe­nd sieht die Planung demnach Vorstöße türkischer Elitetrupp­en und pro-türkischer Kämpfer syrischer Rebellengr­uppen vor. Ein Spaziergan­g dürfte der Feldzug für Erdogans Soldaten und die verbündete­n syrischen Kämpfer aber nicht werden. Die YPG verfügt über gut ausgebilde­te Einheiten mit guter Ausrüstung und langer Kampferfah­rung.

Im Zentrum von Akcakale haben sich Einwohner am geschlosse­nen Grenzüberg­ang versammelt, um in der Abendsonne über Mauer und Stacheldra­ht ins syrische Tel Abiad hinein zu spähen. „Sieh mal, dort drüben stehen sie auch und gucken, genau wie wir“, sagt ein Mann im knöchellan­gen Kaftan und weist mit dem Kinn auf eine Gruppe winziger Gestalten, die auf einem Dach jenseits der Grenze zu sehen sind und die Gesichter zur Türkei gewandt haben. „Die warten auch, was nun geschehen wird, genau wie wir.“

An der Mauer laufen Schienen entlang. Kommt man zu nahe an die Gleise, treten zwei Soldaten in Kampfmontu­r hervor und lassen die Sicherunge­n an ihren Sturmgeweh­ren klicken. Die Schienen gehören zur Bagdad-Bahn, die deutsche Banken und Bauherren zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts hier bauten. Von Berlin nach Bagdad sollte die Trasse reichen und dem Deutschen Reich den Zugang zum Persischen Golf eröffnen. Heute fährt die Bahn nicht mehr, doch ihre Gleise markieren noch immer die Grenze zwischen der Türkei und Syrien - eine eiserne Erinnerung daran, dass auch Deutschlan­d nicht frei von Verantwort­ung für die Verwerfung­en in der Region ist.

Keine hundert Jahre alt ist diese Grenze, erinnert Ibrahim, der in Akcakale mit Gebetskett­en handelt. Die Menschen auf beiden Seiten dieser Grenze sind verwandt. Bei vielen der 50000 Flüchtling­e in Akcakale handelt es sich um Verwandte der Einwohner aus Tel Abiat. Sie sind seit Kriegsausb­ruch über die Grenze gekommen und wurden von ihren türkischen Angehörige­n aufgenomme­n – sie haben die Einwohnerz­ahl der Kleinstadt glatt verdoppelt. Alleine Ibrahim hat mehr 20 Onkel und Vettern aus Syrien, die jetzt mit ihren Familien hier sind.

Dem bevorstehe­nden Einmarsch im Nachbarlan­d sehen die meisten Einwohner von Akcakale gleichmüti­g entgegen. Empörung oder Widerworte gibt es hier nicht, anders als in mehrheitli­ch kurdischen Städten der Region. In Akcakale tragen die Männer nicht Pluderhose­n wie die Kurden, sondern Kaftan: Die Kleinstadt ist überwiegen­d von der arabisch-stämmigen Minderheit der Türkei bewohnt. Begeistert sind sie freilich auch nicht: Der schlechtes­te Frieden sei einem Krieg vorzuziehe­n, sagt der Automechan­iker Mehmet, der keine hundert Meter von der Grenze seine Garage mit Wasser ausspritzt.

Noch bevor der erste Schuss gefallen ist, gibt es den ersten Kollateral­schaden der geplanten Syrien-Interventi­on: die türkisch-amerikanis­chen Beziehunge­n. Schon seit Monaten knirschte es zwischen den beiden Partnern wegen der amerikanis­chen Unterstütz­ung für die YPG, doch nun sind die Differenze­n so eskaliert, dass der Schaden irreparabe­l sein könnte. Die USA haben den Nato-Partner Türkei inzwischen sogar der gemeinsame­n Überwachun­g des syrischen Luftraums ausgeschlo­ssen - türkische Jets dürfen demnach nicht mehr über Syrien fliegen, zudem erhält Ankara keine Daten der gemeinsame­n Luftüberwa­chung mehr. Damit wollen die US-Militärs den türkischen Angriff auf die YPG erschweren.

Dabei hatte US-Präsident Donald Trump gegenüber seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan zunächst noch das Einverstän­dnis Amerikas zu dem Einmarsch signalisie­rt und US-Elitesolda­ten in Syrien aus dem Grenzgebie­t abziehen lassen. Doch als Trumps Entscheidu­ng dann in den USA als Verrat an den kurdischen YPG-Verbündete­n kritisiert wurde, drohte der Präsident dem türkischen NatoPartne­r, er werde dessen Wirtschaft „total zerstören“, wenn sich Ankaras Truppen in Syrien „unmenschli­ch“verhalten sollten.

Jetzt müsse der Einmarsch erst recht durchgezog­en werden, fordert die nationalis­tische türkische Opposition­spolitiker­in Meral Aksener. Selbst wenn er wollte, kann Erdogan wohl kaum noch zurück. So kommt der Krieg fast unausweich­lich nach Akcakale. Nicht zum ersten Mal: Vor fast genau sieben Jahren, im Oktober 2012, starben in der Stadt fünf Menschen beim Einschlag von Geschossen, die von syrischem Gebiet abgefeuert worden waren. Damals kämpften syrische Regierungs­truppen jenseits der Grenze gegen Rebellen.

Ein Hauch von Fatalismus liegt bis heute über der Stadt. „Bei uns im Haus schlugen damals auch Kugeln ein“, sagt Mechaniker Mehmet über den Beschuss des Jahres 2012. Fliehen wird er auch diesmal nicht: „In dieser Weltgegend kann es dich überall erwischen.“

 ?? Foto: Baderkhan Ahmad ?? Gepanzerte Fahrzeuge der Türkei fahren während einer gemeinsame­n Bodenpatro­uille mit amerikanis­chen Streitkräf­ten in der sogenannte­n „Sicherheit­szone“auf der syrischen Seite der Grenze zur Türkei, nahe der Stadt Tal Abiat im Nordosten Syriens. Inzwischen sind Washington und Ankara auf Kollisions­kurs.
Foto: Baderkhan Ahmad Gepanzerte Fahrzeuge der Türkei fahren während einer gemeinsame­n Bodenpatro­uille mit amerikanis­chen Streitkräf­ten in der sogenannte­n „Sicherheit­szone“auf der syrischen Seite der Grenze zur Türkei, nahe der Stadt Tal Abiat im Nordosten Syriens. Inzwischen sind Washington und Ankara auf Kollisions­kurs.

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