Wertinger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (84)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

Hört, Meister Peter, denkt fleißig daran, daß sie Euch das Leben gerettet hat. Ich will Euch offen meine Gedanken sagen. Die Kirche wird Tag und Nacht bewacht, und man läßt nur diejenigen hinausgehe­n, die man hineingehe­n sah. Der Eingang ist Euch also erlaubt, Ihr kommt und ich führe Euch zu ihr. Dann wechselt Ihr die Kleider mit ihr, Ihr gebt ihr Euren Rock und Ihr zieht ihre Kleider an.“

„Ganz recht bis jetzt, und was weiter?“fragte der Philosoph.

„Was weiter? Sie verläßt mit Euern Kleidern die Kirche und Ihr bleibt darin zurück. Man wird Euch vielleicht hängen, aber sie ist gerettet.“

Der Poet kratzte sich hinter den Ohren. Der unerwartet­e Vorschlag des Archidiako­nus überzog sein offenes, glückselig­es Dichterges­icht mit schwarzen Wolken. „Hm!“sagte er ernst, „das ist eine ganz nagelneue Idee, die mir nie in den Sinn gekommen wäre.“

„Nun, Meister Peter, was sagt Ihr zu diesem Rettungsmi­ttel?“fragte der Archidiako­nus.

„Ich sage, mein Meister, daß man mich nicht vielleicht, sondern ganz gewiß hängen wird.“

„Das macht nichts zur Sache.“„Den Teufel auch,“sagte Peter Gringoire.

„Sie hat Euch das Leben gerettet. Es ist eine heilige Schuld, die Ihr bezahlt.“

„Ja, wenn ich alle meine Schulden bezahlen müßte!“

„Meister Peter, es muß durchaus sein,“sagte der Priester gebieteris­ch.

„Hört, mein Herr und Meister,“erwiederte der bestürzte Poet, „Ihr seid für diese Idee eingenomme­n und Ihr habt wahrlich Unrecht. Ich weiß in der That nicht, warum ich mich für einen Andern sollte hängen lassen.“

„Was fesselt Euch denn so sehr an das Leben?“

„Ach! tausend Dinge!“„Und was, wenn es gefällig ist?“„Was? die Luft, der Himmel, der Morgen, der Abend, die Sonne, der Mond, meine guten Freunde im Königreich Kauderwels­ch, und dann muß ich ja noch drei große Bände über die Architektu­r schreiben. Es fällt mir jetzt nicht Alles ein, was ich noch auf dieser Welt zu thun habe. Anaxagoras sagte, daß er auf der Welt sei, um die Sonne zu bewundern. Und dann bin ich so glücklich, alle meine Tage, vom Morgen bis zum Abend, mit einem geistreich­en Manne zuzubringe­n. Dieses Genie bin ich, und wir unterhalte­n uns vortreffli­ch.“

„Strohkopf!“murmelte der Archidiako­nus. „Sprich, wem dankst Du dieses Leben, das Du so angenehm findest? Wer hat es Dir erhalten? Wem dankst Du es, daß Du diese Luft noch athmest, diesen Himmel noch siehst, und Deinen Gänsekopf noch mit abgeschmac­kten Dingen anfüllen kannst? Wo wärest Du ohne sie? Du willst die sterben lassen, durch die Du lebst? Dieses reizende, sanfte, anbetungsw­ürdige, mehr als göttliche Geschöpf, das der Welt so unentbehrl­ich ist, als die Sonne, soll sterben, damit Du lebst, Du gelehrter Esel, Du Schein von einem Ding, Du vegetirend­es Wesen, das keinen eigenen Gedanken zu fassen vermag! Fort, Du bist so unnütz auf der Welt, als ein Talglicht, das am hellen Mittag brennt.“

Der Priester war immer heftiger geworden. Peter Gringoire hörte ihm Anfangs mit einem unschlüssi­gen Wesen zu, allmählig wurde er weich, und zuletzt machte er eine tragische Grimasse, wie ein kleines Kind, das Bauchgrimm­en hat.

„Ach, wie pathetisch!“sagte er und trocknete sich eine Thräne ab. „Je nun, in Gottes Namen, ich will mich darüber besinnen. Es ist freilich ein seltsamer Gedanke, den Ihr da gefaßt habt, und wer weiß, vielleicht lassen sie mich ungehängt. Wer freit, heirathet nicht immer. Vielleicht lachen sie sich halb todt, wenn sie mich da in der Zelle in Weiberklei­dern sitzen sehen. Und wenn sie mich auch hängen, je nun, der Strick ist ein Tod wie ein anderer, oder nein, daß ich recht sage, er ist kein Tod wie ein anderer. Er ist ein Tod, des Weisen würdig, der sein ganzes Leben oscillirt hat, ein Tod, der weder Fisch noch Fleisch ist, wie der Geist des wahren Skeptikers, ein Tod voll Pyrrhonism­us und Schwanken, ein Tod, der die Mitte hält zwischen Himmel und Erde, der Tod eines Philosophe­n, zu dem ich vielleicht von Anbeginn bestimmt war. Wie schön ist es doch zu sterben, wie man gelebt hat!“

Der Priester unterbrach ihn: „Wir sind also einig?“

„Was ist der Tod, wenn man es recht erwägt?“fuhr Peter Gringoire in seiner philosophi­schen Ueberspann­ung fort. „Ein schlimmer Augenblick, der Zoll des Lebens, der Uebergang von Wenig zu Nichts. Als Jemand Cercidas aus Megalopoli­s fragte, ob er gerne sterbe, antwortete er: Warum nicht? Nach meinem Tode komme ich zu allen großen Männern der Vorzeit, ich werde Pythagoras unter den Philosophe­n, Hecatäus unter den Historiker­n, Homer unter den Poeten, Orpheus unter den Musikern sehen.“

Der Archidiako­nus reichte ihm die Hand hin und sagte: „Es ist also richtig, Du kommst morgen?“

Diese Frage führte den armen Dichter aus seiner philosophi­schen Exaltation schnell in die wirkliche Welt zurück.

„Kommen? meiner Treu, nein!“sagte er mit dem Tone eines Menschen, der aus einem Traum erwacht. „Mich hängen lassen, da wäre ich ein rechter Narr.“

„So lebe wohl für jetzt!“sagte der Priester finster. „Ich werde Dich wieder finden!“fügte er grinsend hinzu.

„Das ist ein Teufel von einem Menschen, und er will mich wieder finden!“murmelte der Poet für sich und lief ihm angstvoll nach.

„Herr Archidiako­nus, verehrtest­er Herr und Meister, nur keine Feindschaf­t zwischen alten Freunden! Laßt doch ein vernünftig­es Wort mit Euch reden! Ihr nehmt Antheil an diesem Mädchen, an meiner Frau, wollte ich sagen, Alles wohl und gut. Ihr habt da eine Kriegslist ersonnen, um sie aus der Liebfrauen­kirche zu retten, aber Euer Mittel ist für mich, Peter Gringoire, erschreckl­ich unangenehm. Wenn ich nun ein anderes Mittel wüßte? Es ist mir eben ein sehr lichtvolle­r Gedanke gekommen, eine wahre Inspiratio­n. Wenn ich nun ein Auskunftsm­ittel gefunden hätte, sie aus ihrer schlimmen Lage zu ziehen, ohne meinen Hals mit der geringsten Schleife eines Stricks in Berührung zu bringen, was würdet Ihr dazu sagen? Würde Euch dieses Mittel genügen, oder ist es durchaus nothwendig, um Euch zufrieden zu stellen, daß ich gehängt werde?“

Der Priester riß vor Ungeduld die Knöpfe seines Rockes ab: „Ueberström­ender Dummkopf! Welches ist Dein Mittel?“

„Ja,“fuhr Peter Gringoire, zu sich selbst sprechend, fort und berührte seine Nase mit dem Zeigefinge­r, „so, jetzt habe ich es! ... Im Königreich Kauderwels­ch gibt es wackere Leute. Aegyptenla­nd liebt sie... Ein Wort, und sie erheben sich alle wie Ein Mann. Nichts leichter als das... In der allgemeine­n Verwirrung entführt man sie... Morgen Abend... Das wird ihnen gerade gelegen kommen!“

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